Der US-amerikanische Elektrotechniker hat Erfahrung mit Innovationen, die Altbekanntes von einem Tag auf den anderen verschwinden lassen. Ken Parulski war maßgeblich an der Entwicklung von Digitalkameras beteiligt - unter anderem beim Foto-Unternehmen Kodak.
science.ORF.at: Was verstehen Sie unter dem Begriff "Disruptive Innovation"? Darum wird sich der Arbeitskreis, an dem Sie in Alpbach teilnehmen, drehen.
Ken Parulski: Eine disruptive Innovation bedeutet für mich einen signifikanten Wandel im Bezug auf ein Produkt, eine Technologie oder einen Prozess. Im Gegensatz zu einer kleinen Veränderung bzw. Weiterentwicklung von etwas Bestehendem. Ein Beispiel: Ich habe 32 Jahre für Kodak gearbeitet. In dieser Zeit hat die Digitalfotografie das Fotografieren auf der Basis von Filmen komplett abgelöst. Das war eine äußerst disruptive Innovation.

Parulski
Zur Person:
Ken Parulski ist bekannt als "Pionier der Digitalfotografie". Der US-amerikanische Elektrotechniker war 32 Jahre für das Foto-Unternehmen Kodak tätig und hat dort den Wechsel von analogen zu digitalen Kameras maßgeblich mutgestaltet. Heute ist er Chief Scientist bei aKAP Innovation in Rochester, New York (USA).
Technologiegespräche Alpbach:
Von 21. bis 23. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Forschung und Innovation: At the crossroads". Davor erscheinen in science.ORF.at Interviews mit den bei den Technologiegesprächen Vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ken Parulski wird am Arbeitskreis "Herausforderung Disruptive Innovation: Strategien für eine erfolgreiche Bewältigung" teilnehmen.
Links:
Weitere Beiträge:
- Reinhilde Veugelers: "Industrielle Produktion ist ein Fetisch"
- Karlheinz Brandenburg: "Schlechtes MP3": Eine Frage der Psychologie?
Ö1-Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen Aktuell: 30.6., 13:55 Uhr.
Sie gelten als ein Pionier der Digitalfotografie. Wann und warum haben Sie angefangen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Angefangen habe ich im Sommer meines ersten Jahres am College. Als ich dann ein Student war und an einem Programm des MIT (Massachusetts Institute of Technolgy) teilnahm, hatte ich die Wahl zwischen zwei verschiedenen Projekten. Ich musste mich buchstäblich innerhalb meiner ersten fünf Minuten dort entscheiden.
Zur Wahl stand ein Projekt im Bereich der Mobilfunktechnologie und ein Projekt, bei dem es um ein System ging, das Fotos erfasst und diese digital über ein FM-Radio weiterleitet. Ich habe mich für das Foto-Projekt entschieden. Ich war fasziniert davon, dass man mit Hilfe neuer Technologien sofort das Ergebnis, also das fertige Bild, anschauen konnte - ich glaube, das war der Grund, warum ich bei der Digitalfotografie gelandet bin.
Haben Sie Ihre damalige Entscheidung jemals bereut?
Nein. Aber ich habe mich immer wieder gefragt, was passiert wäre, wenn ich mich dafür entschieden hätte, im Bereich der Mobiltelefonie zu arbeiten. Aber ich empfinde es nach wie vor als Privileg im Feld der Fotografie tätig zu sein, denn Fotos sind den meisten Menschen - in unterschiedlicher Hinsicht - sehr wichtig.
Haben Sie zu Beginn ihrer Arbeit im Bereich der Digitalfotografie bereits erahnt, wie groß die Veränderung sein wird, die diese neue Technologie bewirken wird?
Ich habe vor allem erwartet, dass der Wechsel von analoger zu digitaler Fotografie schneller passiert, als es in der Realität der Fall war. Ich scherze gerne, dass ich angefangen habe mit Digitalfotografie zu arbeiten, bevor die Geräte überhaupt "Digitalkamera" genannt wurden. Das war in den frühen 1980ern. Keiner hat damals verstanden, womit ich mich beschäftige und was das eigentlich sein soll. Man hatte keine Vorstellung davon.
Von da an hat es noch mehr als 20 Jahre gedauert, bis sich Digitalkameras durchgesetzt haben und sogar noch länger, bis sie den Massenmarkt erobert haben. Wenn man sich anschaut, was heute auch mit Hilfe sozialer Netzwerke möglich ist - das hat niemand geahnt. So gesehen waren die Auswirkungen viel größer, als ich vor 20 Jahren angenommen hatte.
Wie hat die Industrie damals auf diesen radikalen Bruch reagiert?
Interessant ist, dass es damals gewissermaßen einige "falsche Starts" gegeben hat. Sony hat die erste analoge, elektronische Kamera im Jahr 1981 präsentiert. Damals gab es Prognosen, dass diese Art der Kamera den Film innerhalb von zehn Jahren ersetzen wird. Aber das ist nicht passiert. Also haben alle geglaubt, dass es noch länger dauern wird, bis das Geschäft mit dem Film einen wirklichen Einbruch erlebt. Außerdem sind viele Unternehmen, Kodak genauso wie andere namhafte Betriebe, davon ausgegangen, dass trotz des Vormarsches der digitalen Fotografie, der Film noch für viele Jahre das bevorzugte Medium bleiben wird. Eine Zeit lang hat es auch danach ausgesehen.
Aber ab dem Moment, wo Digitalkameras gut genug wurden, gab es einen sehr plötzlichen, dramatischen Einbruch beim Verkauf von Filmen. Das hatte enorme finanzielle Auswirkungen auf Unternehmen wie Kodak. Denn das Geschäft mit Filmen war hoch rentabel. Man hatte zwar damit gerechnet, dass das eines Tages passieren wird, aber niemand hatte mit einem so plötzlichen Ende dieser Technologie und dieses Geschäftsfeldes gerechnet.
Welche Konsequenzen haben die Unternehmen gezogen - wurde verstärkt in die Forschung zur digitalen Fotografie investiert?
In die Forschung waren die meisten großen Firmen schon recht früh involviert, alle haben investiert. Aber: Die Unternehmen waren gewissermaßen hin- und hergerissen. Denn sie mussten feststellen, dass das Geschäft mit Digitalkameras weit weniger Geld einbringt, als das Geschäft mit den Filmen. Also wussten sie nicht so recht, ob sie lieber mehr Geld in den weitaus rentableren Verkauf von Filmen - die aber bald verschwinden würden - pumpen sollen, oder eben in die neuen, weniger rentablen Digitalkameras.
Und so kam es, dass sie versucht haben, in etwas zu investieren, das "Hybrid Technologie" genannt wurde. Man stellte sich das so vor, dass Konsumenten die Fotos auf Film schießen und diese dann eingescannt und digital gespeichert werden. Es gab große Investitionen in diese Idee - die sich aber niemals ausgezahlt haben. Denn die Konsumenten haben sich für die digitalen Kameras entschieden.
Wenn Sie heute zurückblicken - war dieser totale Wandel nur positiv, oder ist auf dem Weg auch etwas verloren gegangen?
Den einzigen wirklichen Nachteil, den ich sehe, ist der potenzielle Verlust von Bildern. Früher, als die Fotos noch auf Film geschossen wurden, hatte man Abzüge von wichtigen oder schönen Momenten, auf die man gut aufgepasst hat. Man hat logischerweise auch viel weniger Fotos gemacht, als das heute mit Digitalkameras der Fall ist. So waren die Bilder auch leichter zu archivieren. Ich habe Sorge, dass die Menschen ihre wichtigsten Bilder verlieren, wenn ihre Festplatte kaputt geht oder sie den Zugang zu Online-Plattformen nicht verlängern.
Und technisch gesehen?
Es gibt immer noch eine Handvoll Leute - sowohl Konsumenten als auch professionelle Fotografen - die ihre Fotos noch auf Film schießen. Aus unterschiedlichen Gründen, meistens sind die künstlerischer Natur. Diese Leute sind vielleicht mit jenen Menschen vergleichbar, die ihre Musik immer noch von Vinyl-Platten hören.
Es gibt nur ganz wenige Dinge, die man mit Filmen machen konnte, die mit digitalen Kameras nicht möglich sind. Gleichzeitig kann man mit Digitalkameras und inzwischen auch mit Smartphones so viel machen, was vorher nicht möglich war - etwa Videoclips, Panoramaaufnahmen und dergleichen. Insofern denke ich, dass uns mehr Möglichkeiten eröffnet wurden, als wir zurückgelassen haben.
Heutzutage verändern sich Dinge sehr schnell - führt das vermehrt zu sogenannten disruptiven Innovationen?
Ich kann diesbezüglich nur über den Bereich der Fotografie sprechen. Hier war es lange so, dass es sehr viel Geld gekostet hat, ein neues Fotografiesystem zu entwickeln und es hat auch sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Kodak etwa brachte nur alle zehn Jahre ein neues System heraus. Heute geht das viel schneller: Innerhalb von zehn Jahren haben die Leute zuerst von analogen Kameras zu digitalen Kameras gewechselt und dann haben sie diese zurückgelassen und sind zu Smartphones übergegangen. Diese Veränderungen sind sehr schnell passiert.
Die Entwicklung neuer Hardware kostet zwar nach wie vor viel Geld, aber im Bereich der Anwendung eröffnen sich sehr viele Möglichkeiten, die nicht viel Geld kosten - man braucht sich nur Dienste wie Facebook oder Instagram anschauen. Insofern glaube ich schon, dass wir an einem Punkt sind, wo Innovationen viel schneller passieren.
Sie haben es bereits erwähnt: Die Menschen nutzen inzwischen stärker ihrer Smartphones zum Fotografieren, als Digitalkameras. Was bedeutet das für die Industrie?
Die Frage ist: Gibt es heute überhaupt noch einen bestimmten Industriezweig, der sich mit Fotografie beschäftigt? Ein Unternehmen, das sich ausschließlich mit der Produktion von Kameras beschäftigt und sich in den letzten zehn Jahren nicht weiter entwickelt hat, ist kein ernstzunehmender Player in der Fotobranche. Aber ich denke schon, dass es immer einen Platz für Kameras geben wird.
Und zwar für solche, die besser sind als Smartphones. Denn diese werden ständig dünner und leichter - das wird sich nicht mit dem Anspruch an qualitativ hochwertige Kameras vereinbaren lassen. Die Bilder werden niemals so gut sein, wie etwa solche, die mit einer digitalen Spiegelreflexkamera geschossen wurden. Insofern wird es eher darum gehen, neue Wege der Vernetzung und des Teilens von Bildern zu schaffen.
Was wird dementsprechend der nächste große Wandel im Bereich der Fotografie sein?
Das vorauszusehen ist natürlich schwierig. Aber es ist klar, dass es mit immer mehr Geräten möglich sein wird, Fotos zu machen, und dass Kameras und Fotografie sich zunehmend automatisieren werden. Das kann beispielsweise ein System sein, das automatisch besondere Momente einfängt. Mich persönlich interessiert auch, Bilder, die bereits geschossen wurden, in ihren örtlichen oder historischen Kontext einzubetten. So etwas kann zum Beispiel im Tourismus Anwendung finden.
Aber auch im Bereich der Kombination von Fotos wird sich noch einiges tun. Etwa, wenn viele verschiedene Bilder, die von verschiedenen Fotografen bei ein- und demselben Event aufgenommen wurden, automatisch miteinander kombiniert werden und dann in einer Art Multimedia-Präsentation anzuschauen sind. Diese Entwicklungen werden noch sehr interessant werden.
Interview: Theresa Aigner, science.ORF.at