science.ORF.at: Ich habe lange geglaubt, Doktor Bertlmann sei eine literarische Figur, die sich ein Physiker ausgedacht hat.
Reinhold Bertlmann: Das glauben viele, aber es gibt mich wirklich.
Wie kam es, dass Ihre Socken quasi prominent wurden?
Die Sache geht auf den nordirischen Physiker John Bell zurück. Ich habe mit Bell in den späten 70er Jahren am CERN zusammengearbeitet und kam 1980 für einige Zeit auf Besuch nach Wien.
Zur Person
Reinhold Bertlmann ist Professor an der Fakultät für Physik der Universität Wien. Dort trafen sich letzten Monat anlässlich des 50. Jahrestages von John Bells Theorem Physiker aus aller Welt: "Quantum [Un]Speakables II: 50 Years of Bell's Theorem ".

CERN
Eines Tages saß ich im Computerzimmer des physikalischen Instituts und gab meine Rechnungen ein - da stürzt plötzlich mein Freund und Kollege Gerhard Ecker bei der Tür herein, sagt "Reinhard, schau, was ich da habe!" und wedelt mit der Kopie eines Artikels von John Bell, in dessen Titel mein Name vorkommt: "Bertlmann's Socks and the Nature of Reality". Auf der zweiten Seite war sogar ein Cartoon von mir - sehr treffend wie ich finde. Ich war jedenfalls ganz aus dem Häuschen, mir ist fast das Herz stehen geblieben.
Was war der Inhalt des Texts?
Ich habe seit meiner Jugend die Angewohnheit, verschiedenfarbige Socken zu tragen. John Bell hat das verwendet, um ein physikalisches Problem zu veranschaulichen: das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon, kurz: EPR-Paradoxon.
Worum geht es bei diesem Paradoxon?
Einstein war mit der Quantenmechanik nie recht zufrieden. Er hat sich immer wieder Gedankenexperimente überlegt, die zeigen sollten, dass in der Quantenmechanik etwas fehlt. Das EPR-Paradoxon ist so ein Gedankenexperiment: Man präpariere zwei Teilchen A und B, sodass sie sich im Zustand der sogenannten Verschränkung befinden, und bestimme danach ihren Spin. "Verschränkt" heißt: Wenn ich den Spin von Teilchen A messe, dann ist auch der Spin von B augenblicklich mitbestimmt - und zwar unabhängig davon, wie weit die beiden Teilchen voneinander entfernt sind.
Einstein sagte: "Es kann doch nicht sein, dass es zwischen den beiden Teilchen eine geisterhafte Fernwirkung gibt." Er nahm daher an, der Spin von B muss bereits vor der Messung von A physikalische Realität haben. Er muss bereits vorhanden sein, bevor der Physiker ihn bestimmt. Dafür gibt es aber in der Quantentheorie keine Entsprechung. Deshalb schloss Einstein, dass die Quantentheorie unvollständig sein muss.
Was hat das mit Ihren Socken zu tun?
John Bell hat meine beiden Socken mit den beiden Teilchen von Einstein verglichen. Sein Cartoon zeigt folgendes: Angenommen, ich komme gerade um die Ecke und ein Beobachter sieht mein linkes Bein mit einem pinkfarbigen Socken. Dann weiß der Beobachter, dass mein rechter Socken nicht pink ist, obwohl er ihn noch gar nicht sieht.

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Durch Bells Aufsatz begann ich mich erst für die Grundlagen der Quantenmechanik zu interessieren. Als ich am CERN gearbeitet habe, war das für niemanden ein Thema. Alle haben damals zu mir gesagt: "Quantum mechanics works, don't worry." Wenn man so will, bin ich erst durch diesen Cartoon zum Quantenphysiker geworden.
Nur kann man schwer behaupten, die beiden Socken seien "verschränkt", oder?
Nein, aber Bell hat die Frage gestellt: Gibt es einen Grund, warum die Socken diese und keine anderen Farben haben? Die Antwort ist einfach: Sie haben diese Farben, weil ich sie in der Früh so angezogen habe. Daran würde niemand zweifeln. Laut Bell gilt das allerdings auch für die Quantenwelt. Das nennt man Realismus.
Bell sagt also im Wesentlichen das Gleiche wie Einstein?
Ja, er hat Einsteins Forderungen vor genau 50 Jahren in Formeln übersetzt. Das sind die sogenannten Bell'schen Ungleichungen, mit deren Hilfe man solche Fragen nun auch empirisch testen kann.

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Die Sockengeschichte ist im Wesentlichen eine populäre Version dieser Gleichungen. Ich habe 1988 eine Antwort auf seine Arbeit geschrieben, um den Teilchenphysikern das Bell'sche Theorem zu erklären. Ich bin völlig gescheitert. Kein Mensch hat meine Arbeit gelesen.
Haben die Socken nun eine Farbe, bevor sie beobachtet werden oder nicht?
Die Socken schon. Aber was die Quanten betrifft, scheint Bell nicht Recht behalten zu haben. Die Experimente zeigen, dass ihre Eigenschaften erst durch die Messung festgelegt werden.
Man muss den Realismus aufgeben?
Ja. Oder die Lokalität, also die Vorstellung, dass Quantenobjekte im Raum voneinander trennbar sind. Oder beides.
Die ersten Experimente, die in diese Richtung deuteten, etwa jene von Alain Aspect, wurden in den frühen 80ern durchgeführt. Wie hat Bell darauf reagiert?
Er war völlig verblüfft. Er konnte es sich nicht erklären. Ich habe bis kurz vor seinem Tod mit ihm diskutiert, und seine Antwort lautete bis zuletzt: "It's a mystery."
Wie geht es Ihnen damit?
Für mich war das nie ein großes Problem. Bell hatte immer ein realistisches Weltbild, ich nicht. Insofern ist es auch eine Ironie der Geschichte, dass er gerade mich zum Hero seines Aufsatzes gemacht hat.
Wenn wir den Realismus aufgeben müssen - warum gilt das nicht für Ihre Socken?
Weil sie ihre Quanteneigenschaften verloren haben. Die Theorie der sogenannten Dekohärenz besagt: Je größer ein Quantensystem, desto eher waschen sich Quanteneffekte gewissermaßen aus. Die Socken verhalten sich wie ein klassisches physikalisches System.
Interview: Robert Czepel, science.ORF.at
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