Bisher haben - Stand Dienstagmittag - 280 Neurowissenschaftler einen offenen Brief an die EU-Kommission unterschrieben, darunter auch vier in Österreich tätige Forscher.
Hauptkritik: Zu viel Geld werde in einen Forschungsansatz investiert, der wichtige Teile der Gehirnforschung zu wenig beachtet und deshalb die selbstgesteckten Erwartungen nicht erfüllen könnte.
Eine Milliarde Euro
Ö1 Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 8.7., 13:55 Uhr.
Wenig Geld ist tatsächlich nicht im Spiel. Im Jänner 2013 gab die EU-Kommission zwei Vorzeigeprojekte bekannt, die dem neuen Forschungsrahmenprogramm "Horizon 2020" sozusagen ein Gesicht geben sollten. Eines zum Thema Graphen - "Graphene Flagship" ist bisher wenig umstritten - das andere zur Gehirnforschung ("Human Brain Project - HBP"). Beiden sollen mit jeweils rund einer Milliarde Euro gefördert werden, und zwar über einen Zeitraum von zehn Jahren, die Hälfte kommt von der EU, die andere von den Mitgliedsstaaten.
Einer der Unterzeichner des offenen Briefs ist Andrew Straw vom Institut für Molekulare Pathologie in Wien. Er forscht anhand von Fruchtfliegen zu Fragen des Sehsinns im Gehirn und ist nicht am HBP beteiligt.
"Es ist natürlich ein faszinierendes Ziel für die Wissenschaft herauszufinden, wie das menschliche Gehirn genau funktioniert", sagt er im Gespräch mit der Ö1 Wissenschaft. "Das 'Human Brain Project' macht das aber nur aus einer sehr engen Perspektive. Es versucht, die Vorgänge in einem bestimmten Teil des Gehirns - der Großhirnrinde - zu simulieren."
Zwei Hauptkritikpunkte
Dagegen würden zwei Dinge sprechen. Zum einen der Umstand, "dass es überhaupt keinen Konsens in der Wissenschaftscommunity gibt, dass wir dazu jetzt schon imstande sind." Zum anderen würden durch diesen zentralen Ansatz viele andere Forschungsansätze unterbewertet. "Die Forschung sollte bottom-up, von den einzelnen Labors gemacht werden - wo Forschungsgruppen gute Ideen haben und diese weiterverfolgen. Und nicht top down, von oben verordnet durch eine Idee, die zentral von einer kleinen Gruppe verwaltet wird."
Letztlich gehe es ums liebe Geld. Zwar sei es nicht unbedingt bei den von der EU stammenden Mitteln zu erwarten: Spätestens bei den Forschungsgeldern, die von den Mitgliedsstaaten kommen, sei aber zu befürchten, dass HBP bestehende Forschungsansätze verdrängt.
Erste Hinweise darauf gibt es bereits innerhalb des Projekts: Laut einem Artikel in "Science" wurde zuletzt ein ganzes Forschungsfeld aus dem HBP gestrichen. Dabei handelt es sich um "kognitive Architekturen", also um die Repräsentationen bestimmter Funktionen wie Wahrnehmung oder Erinnerung im Gehirn. In Gefahr seien, so die Befürchtung vieler, Forschungen über höhere Gehirnprozesse, die man nicht so einfach auf der Ebene von Molekülen oder Nervenzellenverbindungen abbilden kann.
Reaktionen der Angesprochenen
Hauptadressat der Kritik ist Henry Markram, der Leiter des "Human Brain Project" von der ETH Lausanne. Gegenüber der BBC bestritt er die Vorwürfe: "All diese Projekte gibt es noch immer. Kognition ist ein entscheidender Bestandteil, um das Ganze zu verstehen." Den Argumenten seiner Kritiker kann er wenig abgewinnen. Und den Versuch, das menschliche Gehirn per Computer zu simulieren, hält er für einen Paradigmenwechsel. "Jedes neue Paradigma steht vor diesen Schwierigkeiten. Einige bekämpfen den unvermeidlichen Wechsel."
Das tun sie in der Tat: In dem offen Brief an die EU-Kommission schreiben sie, dass die zu eng formulierte Forschungsthese das Risiko trage, die Ziele zu verfehlen. Falls ihre Empfehlungen nicht umgesetzt würden, plädieren die Unterzeichnenden dafür, nicht an Partnerprojekten des HBP teilzunehmen, und riefen Kollegen dazu auf, sich ihrer Erklärung anzuschließen.
Eine erste Reaktion der EU-Kommission gibt es bereits. Ein Sprecher schrieb "Science", dass HBP "erst seit neun Monaten läuft. Wie bei jedem ernsthaften wissenschaftlichen Unterfangen dieser Größe glaubt die Kommission, dass es zu früh ist, Schlüsse über das Gelingen oder Scheitern des Projekts zu ziehen." Im Rahmen ihrer jährlichen Überprüfungen werde Forschung, Management und Koordination des Flaggschiffprojekts überprüft - der erste Zeitpunkt dafür sei der Jänner 2015.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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