Kleine Archäologie der vielen Frieden
von Wolfgang Dietrich

Wolfgang Dietrich
Zum Autor
Wolfgang Dietrich ist UNESCO Chairholder for Peace Studies und Leiter des MA Program for Peace Studies an der Universität Innsbruck.
Seminare beim Forum Alpbach
Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach leitet Dietrich mit Beatrice Heuser am 14.8. das Seminar "Sustainable Peace and Security – Who Cares?". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
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Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2014 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.
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Ich mache als einzelner Mensch keine Erfahrung, heißt es, vielmehr haben mich Erfahrungen zu jenem gemacht, der ich gerade bin. Frieden und Konflikt als beziehungshafte Erfahrung machen soziale Wirklichkeit und sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Ohne relational erfahrendes Subjekt ist Frieden ein inhaltsleeres Wort. Mit Friedensfragen setzen sich Menschen auseinander, die selbst von Erfahrungen gemacht wurden, die sie über die oberflächliche Selbstverständlichkeit dieser Begriffe nachdenken lassen.
Wer sich darauf einlässt, wird rasch auf die Vielfalt der Wahrnehmungen und Beschreibungen von Frieden und Konflikt im politischen, sozialen, gemeinschaftlichen, familiären, kulturellen und damit wissenschaftlichen Leben stoßen.
Wer Frieden als relationalen Grundbegriff versteht, muss sich auf ein alle Sphären des Menschseins betreffendes Geflecht von Interpretationen, Wünschen, Absichten und deren Fluktuation zwischen Selbstbewahrung und Selbsterweiterung einlassen. Das führt zur Erkenntnis, dass das Wort "Frieden" nur als Plural sinnhaft beschrieben werden kann: die vielen Frieden!
Lehren aus Burkina Faso
Die aus aller Welt kommenden Studierenden des Innsbrucker Masterstudiums für Friedensstudien werden seit langem eingeladen, die etymologische Herleitung des Wortes für Frieden in ihrer jeweiligen Muttersprache zu erforschen. Vor vielen Jahren sorgte ein Student aus Burkina Faso für Fassungslosigkeit, als er sagte, dass das Wort für Frieden in seiner Muttersprache nichts anderes bedeute als "frische Luft".
Das machte klar, dass die Friedensforschung sich nicht allein auf den empirischen Nachweis beschränken darf, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen Friedensbegriffen auf der Welt gibt. Vielmehr geht darum, wie sie sich konkret definieren, unterscheiden und zueinander in Beziehung stehen.
Mit der Seele atmen
Auf das Erstaunen über die "frische Luft" folgt die Begeisterung über die Schönheit des Wortes: Kann es einen besseren Weg geben, Frieden zu erfahren, als frische Luft zu atmen? Ist das Atmen nicht das verbindlichste Tun aller Geschöpfe für sich selbst und doch in zwangsläufiger Beziehung zueinander – und damit der lebendige Maßstab der vielen Frieden schlechthin? Nehmen wir nicht mit jedem Einatmen die ganze Mitwelt in uns auf?
Geben wir nicht selbst mit jedem Ausatmen etwas aus unserem tiefsten Inneren, etwas sehr Intimes und Authentisches, an die Mitwelt ab? Dringen Partikel unseres Atems nicht wieder in die Lungen und Körper anderer Lebewesen, sodass wir sagen können, dass alles Lebende über das Atmen inniger miteinander verbunden ist als durch irgendeine andere Tätigkeit? Ist Atmen nicht der elementare Ausdruck des Lebens, in vielen Sprachen synonym mit Seele, und ist daher frische Luft nicht die bestmögliche Beschreibung friedlicher Alleinheit?
Das ist Einsicht des Mystizismus, Buddhismus, Taoismus, Tantra, Sufismus, Yoga und Schamanismus. Für Sänger, Tänzer und Schauspieler ist es selbstverständlicher Alltag. Für sie alle steht die bewusste Steuerung des Atems im Zentrum jeder Tätigkeit, bei der es um inneren oder auch sozialen Frieden, um Verbundenheit und Ästhetik geht.
Norm und Harmonie
Aus dieser Erfahrung entwickelte sich am Innsbrucker UNESCO Chair for Peace Studies eine systematische Erforschung der unterschiedlichen Friedensbegriffe, eine "kleine Archäologie" der vielen Frieden in Geschichte und Kultur, weit über das landläufig moderne Verständnis des Friedens als Abwesenheit von Gewalt und Krieg hinaus. Wer solche Fragen stellt, findet sich rasch in einer Diskussion, die weit über das hinaus geht, was wir in Europa unter dem Titel pax, peace, paz, paix, pau, pace als paktiertes Ende gewalttätiger Auseinandersetzungen denken.
Die anfängliche These dieser "Archäologie" war, dass es zumindest zwei große Familien von Weltsichten und dazugehörigen Friedensvorstellungen gebe. Die eine, die auf wie auch immer begründeten Normen fußt, die sich über Gott, Vernunft, Gesetz, Macht oder Moral legitimieren; die andere, welche die Frieden aus dem energetischen Erleben des Seins herausspürt und die Frieden als mystische, harmonische und ästhetische Resonanz interpretiert.
Versuch einer Systematik
Im Zuge der "archäologischen" Arbeit hat sich gezeigt, dass sich aus der Grundannahme dieser energetischen und der moralischen Kategorien weitere Verknüpfungen ergeben, die je nach Perspektive Merkmale bündeln, die eine eigene Bezeichnung rechtfertigen und verlangen. Der aktuelle Zwischenstand der Diskussion beschreibt mittlerweile fünf so genannte Friedenfamilien und erklärt sie folgend:
Energetische Friedensbilder sehen die menschliche Existenz in die Alleinheit alles Seienden eingebettet und gehen von einer Beziehung von Allem mit Allem aus. Deshalb bedeutet ihnen Frieden die Harmonie aller wahrnehmbaren Phänomene zueinander.
Moralische Friedensbilder nehmen das energetische Moment in einem außerhalb der Welt stehenden Schöpfergott wahr, einem Gott, der das Leben und mit ihm das Potenzial gerechter Frieden spendet. Die Erzählungen sind zumeist mythisch. Frieden spalten sich zwischen dem ewigen, göttlichen Prinzip und der zeitlich irdischen Existenz. Sie sind auf Gerechtigkeit ausgerichtet.
Moderne Friedensbilder basieren auf einem mechanistischen Weltbild, das Gott gewissermaßen delogiert und Vernunft an seine Stelle setzt. Strukturell unterscheiden sich diese Bilder nicht wesentlich von den moralischen, nur erzählen sie die Frieden auf rationale Weise, was heißt, dass wie all ihre Annahmen auch die über die zwischenmenschlichen Beziehungen in der manifesten Welt gründen. Der Mensch wird als erkennendes Subjekt und deshalb als auf Sicherheit bedachtes und vernunftbegabtes Wesen definiert.
Postmoderne Friedensbilder bezweifeln die Existenz jeder ultimativen Wahrheit und erklären Gott für tot. Damit ist der Mensch als erkennendes Wesen auf sich selbst und seine individuellen und kollektiven Beziehungen in einer einzig existierenden und wahrnehmbaren Welt zurückgeworfen. Die Konsequenz ist ein Friedenbild, das dauerhaft viele in Zeit und Beziehungshaftigkeit begrenzte Wahrheiten aushandelt.
Transrationale Frieden erkennen die Begrenztheit eines materiellen Weltverständnisses und überschreiten das Menschenbild der Moderne und Postmoderne durch die rationale und ganzheitliche Anerkennung der energetischen Natur der Spezies Mensch. Der transrationale Friedenbegriff anerkennt alles rationale Potenzial der Menschen, bezieht aber auch alle anderen menschlichen Aspekte und Potenziale – etwa Sexualität, Emotionalität, Spiritualität – in seine Überlegungen, Bemühungen und in seine als Praxis der Konflikttransformation ein. Das vereint sich zu einem Friedensverständnis, das thematisch auf den delikat und dynamisch in Beziehung stehenden Grundthemen Harmonie, Sicherheit, Gerechtigkeit und Wahrheit ruht.
Die Archäologie der Innsbrucker Schule versteht sich als dynamisches und dauerhaftes Projekt, das Interessierten offen steht und zum Mitwirken lädt.
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