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Ein Demonstrant bei einer Anti-Israel-Demo pfeift

Was Israel-Kritik zu Antisemitismus macht

Immer wenn Israel Krieg führt, gibt es weltweit Empörung. Neben berechtigter Kritik wird dabei oft in die Kiste des Antisemitismus gegriffen. Das ist auch beim aktuellen Gaza-Konflikt der Fall. Die spezielle Rolle, die das Internet dabei spielt, untersuchen derzeit deutsche Sprachforscherinnen.

Sprache 01.08.2014

"Kritik an politischen Entscheidungen oder Militäraktionen Israels ist natürlich legitim und gehört zum Recht auf freie Meinungsäußerung", sagt Linda Giesel. Die Linguistin arbeitet an einem neuen, auf drei Jahre anberaumten Forschungsprojekt "Antisemitismus im Internet" an der TU Berlin mit. "Israel-Kritik wird aber dann zu Antisemitismus, wenn sie mit uralten antisemitischen Stereotypen einhergeht."

Ein Beispiel: der Vorwurf "Kindermörder Israel", den man im Zuge von Demonstrationen zum Gaza-Konflikt auf zahlreichen Plakaten lesen konnte. "Im Mittelalter wurden Juden und Jüdinnen bezichtigt, Kinder zu entführen und im Zuge von Ritualmorden zu töten. Heute wird das auf Israel angewendet - so, als würde Israel vorsätzlich Kinder ermorden." Waren früher Juden Feindbilder, so sei es heute der Staat Israel, der dämonisiert wird.

Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelstandard

Ö1-Sendungshinweis:

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 1.8., 13:55 Uhr.

Laut Giesel gibt es u. a. eine Faustregel, um berechtigte Kritik von antisemitischer zu unterscheiden: die "3-D-Regel - Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandard". Bei den Doppelstandards geht es z. B. darum, dass an Israel moralische Messlatten angelegt werden, die für andere Länder nicht gelten. "Es gibt Boykottforderungen gegenüber israelischen Waren. Gegenüber China oder anderen Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden oder die keine Pressefreiheit haben, gibt es diese Forderungen hingegen nicht. Ein klarer Fall von Doppelstandard und einseitiger Fokussierung auf den israelischen Staat."

Dieser zeige sich schon bei der Berichterstattung über diverse Krisenregionen. "Israel kommt in den deutschsprachigen Medien überproportional oft vor. Andere Länder, über die man auch berichten könnte, werden ausgeblendet."

Das ist auch im aktuellen Gaza-Konflikt zu beobachten. Während etwa im syrischen Bürgerkrieg seit 2011 über 150.000 Menschen getötet wurden und Millionen Menschen auf der Flucht sind, sind Demonstrationen dagegen in Europa eher Mangelware. Offenbar liegt es an einem der beiden Konfliktpartner, der Gaza so besonders interessant macht.

Konflikte spülen Antisemitismus an die Oberfläche

"Aktuelle Konflikte sind Auslöser für antisemitische Äußerungen. Sie sind aber nie der Grund dafür. Der Antisemitismus war schon vorher da", sagt Giesel. Das ist letztlich auch eine Hauptaussage eines bereits abgeschlossenen Vorgängerprojekts an der TU Berlin. Dabei hatte die Linguistin Monika Schwarz-Friesel mit Kollegen mehrere Jahre lang rund 14.000 Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die israelische Botschaft in Berlin ausgewertet.

Konfliktsituationen waren dabei immer "Hochzeiten" für Antisemitismus. "Etwa beim Libanon-Krieg 2006", erzählt Giesel. Üblicherweise erhält die Botschaft ein paar Dutzend Zuschriften pro Monat. Im Juni 2006, auf dem Höhepunkt des Libanon-Kriegs, waren es aber knapp 1.200 - die allermeisten mit antisemitischen Inhalten. Beim Zentralrat war die Tendenz sogar noch stärker, obwohl dieser mit dem Staat Israel nichts zu tun hat, sondern die Juden und Jüdinnen in Deutschland repräsentiert.

"Affekt-Antisemitismus" im Internet

Auch beim aktuellen Gaza-Konflikt gibt es diese Tendenz - und zwar in "neuem Ausmaß", wie es Schwarz-Friesel gegenüber der dpa nannte. "Wir beobachten im Internet eine riesige Flut antisemitischen Schreibens." Das Internet rege dieses Schreiben zwar nicht an, es trage aber zu einer neuen Qualität bei, meint ihre Projektmitarbeiterin Giesel.

"Das Web ist ein halb öffentlicher Kommunikationsraum, in dem die Hemmungen der Menschen, ihre Gefühle auszudrücken, sinken. Emotionalität spielt bei Antisemitismus immer eine wichtige Rolle. Und wenn man ohne viel Nachdenken einen Kommentar unter einem Artikel schreiben oder auf Facebook posten kann, geht das schneller, als eine E-Mail zu schreiben oder zum Telefonhörer zu greifen." Dieser "Affekt-Antisemitismus" sei im Internet besonders stark verbreitet.

Welche weiteren Besonderheiten die antisemitische Kommunikation im Internet hat, darüber soll das neue Forschungsprojekt Aufschluss geben, das dieser Tage in Berlin angekündigt wurde. Eine Arbeitshypothese lautet, dass es dank Facebook und Co. zu einem riesigen Kommunikationsraum gekommen ist, in dem sich antisemitische Gruppierungen verschiedener Herkunft begegnen.

Querfrontthema für Rechte, Linke und die Mitte

Das passt zu einem Fazit der Vorgängerstudie: Antisemitismus ist ihr zufolge längst kein Randgruppenphänomen mehr. Es gibt ihn nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern genauso bei Linken und in der politischen Mitte. "Er ist dort sogar massiv vertreten", sagt Giesel. "Personen beschreiben sich in den Zuschriften an die Botschaft oder an den Zentralrat selbst als Lehrer, Ärzte, SPD-Wähler oder Humanisten und kritisieren Israel dann auf eine Weise, die eindeutig antisemitisch ist."

Diese Schichten und politische Milieus übergreifenden Einstellungen zeigen sich auch bei den aktuellen Gaza-Demonstrationen. "Rechtsradikale, antiimperialistische Linksradikale, islamische Fundamentalisten, Leute aus der Friedensbewegung und andere treffen sich bei diesem 'Querfrontthema' und greifen Israel als 'zionistischen Aggressorstaat' an, oft mit der gleichen Wortwahl."

Ausführlich über Verfasser und Verfasserinnen antisemitischer Schreiben aus Österreich haben die Berliner Linguisten bisher nicht geforscht. In kurzen Vergleichsstudien stellten sie aber fest, dass Stereotype und judenfeindliche "Argumentation" ähnlich funktionieren wie in Deutschland. Auch sei die Tendenz zu Schuld- und Erinnerungsabwehr "nahezu identisch". Bei antisemitischen Zuschriften aus anderen untersuchten Ländern wie England oder Spanien sei diese nicht vorhanden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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