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Wehende Nationalflaggen vor blauem Himmel

Wie man eine Nation konstruiert

Die deutsche Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann untersucht in einem Gastbeitrag den Formenwandel nationaler Identitäten. Ihre Diagnose: Ex-Kolonien beziehen sich meist auf traumatische Erfahrungen, imperiale Staaten bevorzugen hingegen heroische Selbstbilder.

Opfer und Helden 08.08.2014

Über Nachleben und Nachwehen

Von Aleida Assmann

Aleida Assmann

Aleida Assmann

Zur Autorin

Aleida Assmann ist seit 1993 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zahlreiche Gastprofessuren, u.a. an den Universitäten Rice, Princeton, Yale, Chicago und Wien.

Forschungsinteressen: Individuelles und kulturelles Gedächtnis, Gewalt, Trauma und ihre Verarbeitung in der Geschichte, Struktur und Funktionen des Archivs, Formen des Vergessens.

Aktuelle Publikationen: Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (2007); Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories (hrsg. mit Sebastian Conrad, 2010); Memory and Political Change (hrsg. mit Linda Shortt, 2011); Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention (2013); Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne (2013).

Seminare beim Forum Alpbach:

Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach leitet Aleida Assmann mit Ljiljana Radonic und Heidemarie Uhl das Seminar "Kollektives Gedächtnis – Die Vergangenheit im Fokus der Gegenwart ". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor - bisher erschienen:

Links:

Ö1 Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2014 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent

Karl Marx hat einmal gesagt, dass in der Geschichte alle großen Ereignisse zweimal geschehen, "das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce". Mit Blick auf die Phasen des nationbuilding kann dieses Diktum abgewandelt werden: das erste Mal im heroischen Modus, das zweite Mal im tragischen Modus des Leidens und der Viktimisierung. Die neuen postkolonialen und post-kommunistischen Nationen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, unterscheiden sich markant von denen, die im 19. Jahrhundert begründet wurden.

Ihr Fokus ist auf Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Gewalt und Leiden als definierenden Momenten ihrer nationalen Geschichte und Identität ausgerichtet. Deshalb unterscheidet sich auch die Struktur der neuen nationalen Gedächtnisse deutlich von den traditionellen Formen; sie beziehen sich nicht mehr nur auf Triumphe wie z.B. heroische Befreiungskämpfe, sondern immer öfter auch auf historische Traumata.

Nationen des Schmerzes

Damit hat sich der Schwerpunkt der Gedächtnisbildung von der Konstruktion eines heroischen Nachlebens ("afterlife") hin zu den Nachwehen ("aftermath") einer traumatischen Geschichte verlagert, und damit zugleich von aktiven, intentionalen Konstruktionen des kollektiven Gedächtnisses hin zu passiven Formen des Gedächtnisses, die oft erst verspätet zu Wort und Bewusstsein gelangen.

In diesen Fällen entsteht die Nation nicht aus einem Gefühl des Stolzes oder der Ehre, sondern aus einer Erfahrung von Unterdrückung und Schmerz; sie steht im Zeichen einer Wunde, die allerdings nicht nur als Stigma, sondern auch als Unterpfand einer unveräußerlichen Gruppenidentität aufgefasst wird.

Seit den 1980er Jahren hat sich ein neues Menschenrechtskonzept durchgesetzt, das in politischen Debatten die älteren ideologisch gesteuerten Diskurse des Klassenkampfes, nationaler Revolutionen und anderer Antagonismen überlagerte. Die Einforderung von Menschenrechten und der Anspruch auf den universalen Wert körperlicher Integrität trugen dazu bei, Konflikte zu entpolitisieren und bahnten einer neuen Erinnerungspolitik den Weg.

"Politik der Reue"

Die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung historischer Wunden durch die ehemaligen Kolonialstaaten hat zu einer "Politik der Reue" (Jeffrey Olick) geführt, die in den 1990 ihren Höhepunkt erlebte, als viele Staatsoberhäupter zum ersten Mal ihre Stimme erhoben und sich für Unrecht, Ausbeutung und Gräueltaten öffentlich entschuldigten, die ihre Regierungen während der Kolonialzeit an schutzlosen Minderheiten, Subalternen und Angehörigen der indigenen Bevölkerung verübt hatten.

Englische Historiker, die diese neue Perspektive einer Politik der Reue heute kommentieren, stellen einen grundlegenden Wertewandel fest, bei dem sich die ‚liberale’ Erinnerung an das Imperium gänzlich auflöst und zunehmend durch eine öffentliche Debatte über das Imperium als ein schändliches Erbe, "a legacy of shame" ersetzt worden sei.

Der Historiker der Britischen Imperiums John Darwin schreibt dazu: "Die imperiale Vergangenheit wird heute vorwiegend in den Kategorien von Rassismus und Sklaverei dargestellt - man denke nur an das neue Museum des Sklavenhandels in Liverpool – und das Imperium selbst als ein System rassischer Herrschaft." Durch die Ausdehnung nationaler Verantwortung von der Gegenwart auf die Vergangenheit wurde die Kolonialgeschichte in einer Weise umgeschrieben, die nun auch die Erfahrung und Traumata der Opfer einschließt.

Russland: Stalin als Modernisierer

Wo dies nicht geschieht, wird wie im heutigen Russland die Größe der Stalinzeit fortgeschrieben. Stalin gilt dort als Weltkulturerbe, als Sieger gegen Hitler und als radikaler Modernisierer. Die Millionen Toten des Großen Terrors können zwar nicht ganz verschwiegen werden, aber in den neuen russischen Schulbüchern werden sie vereinnahmt für eine neue Sinnstiftung.

Sie erscheinen dort nicht als entrechtete und vernichtete Opfer, sondern als Märtyrer der Modernisierung und damit als Träger einer gemeinsamen geschichtlichen Entwicklung, die stets in die Zukunft fortschreitet und von allen befördert wird. Nationen, die imperial bleiben wollen, können sich nur eine heroische Opfergeschichte aber keine Erinnerung an selbstverursachte Traumata und ‚historische Wunden’ leisten, die die eigenen Verdienste schmälern oder gar in Frage stellen.

Folgen für die Erinnerung?

Nach der langen Geschichte des nationbuilding befinden wir uns heute in einer Phase des Umbaus nationaler Identitäten und des Umbau ihrer Gedächtnisse. Eine Umwandlung der Gesellschaft zieht Umstrukturierungen der Erinnerungen nach sich und das gilt auch umgekehrt. Deshalb ist die Qualität dieser Erinnerungen von zentraler Bedeutung.

Mit was für Erinnerungskonstruktionen haben wir es jeweils zu tun? Die Antwort darauf lässt sich durch einige Testfragen wie die folgenden erschließen: Sind die Gedächtniskonstruktionen rein monologisch organisiert oder enthalten sie dialogische Anschlussmöglichkeiten?

Ist das nationale Narrativ ausschließlich auf die Vermehrung nationalen Stolzes und die Erhöhung des kollektiven Selbstwertgefühls ausgerichtet, oder öffnet es sich auch der traumatischen Erfahrung des Anderen in einer gemeinsamen Gewaltgeschichte?

Verdecken sie die schmerzenden Wunden eines gestörten Selbstbildes mit nostalgischen Phantasien oder stellen sie sich ihrer ganzen Geschichte, um sie durchzuarbeiten und auf diese Weise zu überwinden und hinter sich zu lassen?

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