Der zentrale Text für die leidenschaftlich geführten Debatten über die Postmoderne war eine Auftragsarbeit der kanadischen Regierung, die den Titel "La condition postmoderne"/"Das postmoderne Wissen" trug. Darin formulierte Lyotard den Abschied von Denkströmungen und Ideologien, die sich auf Letztbegründungen stützen.
Im zwanzigsten Jahrhundert seien sie anachronistisch geworden, argumentierte Lyotard sie dienten nur mehr strategischen Planspielen, die im Namen der Vernunft, der Teleologie oder der Emanzipation geführt würden.
Biografie
Jean Francois Lyotard wurde 1924 in Versailles geboren. 1950 legte er sein Staatsexamen in Philosophie ab und lehrte an verschiedenen Gymnasien; darunter 1950-1952 in Algerien. Er sympathisierte mit der Algerischen Befreiungsbewegung und wurde Mitglied der radikalen marxistischen Gruppe "Socialisme ou Barbarie (mit Cornelius Castoriadis und Claude Lefort).
1959 begann Lyotards Karriere als Hochschullehrer. Ab 1968 war er als Professor der Philosophie an der Universität Paris VIII (Vincennes, Saint-Denis) und anderen Hochschulen ( Sorbonne und Nanterre) tätig. Später unterrichtete er an der University of California, Irvine und an der Yale University. Mit Jacques Derrida gründete er das Collège international de philosophie in Paris. 1987 wurde er emeritiert. Lyotard verstarb am 21. April 1998 in Paris.
Literaturhinweise
- Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übersetzt von Otto Pfersmann
- Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985, übersetzt von Dorothea Schmidt und Christine Pries
Grabmal des Intellektuellen, übersetzt von Clemens-Carl Haerle
- Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, übersetzt von Christine Pries
- Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, übersetzt von Christine Pries
- Heidegger und "die Juden", übersetzt von Clemens-Carl Haerle
Die Bücher Lyotards sind im Passagen Verlag erschienen, herausgegeben von Peter Engelmann.
Weiters:
- Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, übersetzt von Joseph Vogl, Fink Verlag
- Die Analytik des Erhabenen – Kant-Lektionen, übersetzt von Christine Pries, Fink Verlag
-´Wozu philosophieren? Wie nicht philosophieren?, übersetzt von Thomas Langstien, diaphanes Verlag
- Apathie in der Theorie, übersetzt von Clemens-Carl Haerle und Lothar Kurzawa, Merve Verlag
Sekundärliteratur:
- Bernhard Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge, Suhrkamp Verlag
- Idiome des Denkens, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Band 1777
- Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Suhrkamp Verlag
- Saskia Wendel: Jean-François Lyotard: Aisthetisches Ethos, Fink Verlag
Laut Lyotard kulminieren die "großen Erzählungen" in Hegels Philosophie und begründen die Moderne. Im Unterschied zu den rückwärtsgewandten Mythen, die eine Erklärung der Vergangenheit geben wollen, sind die "großen Erzählungen" Versuche, Modelle für die Zukunft zu liefern, die (wie zum Beispiel im Marxismus) in einer großen Idee besteht, die erst in der Zukunft verwirklicht werden soll oder - in der Terminologie von Jürgen Habermas - als unvollendete Projekte der Moderne weiter geführt werden sollten.
Transformation des Wissens
Lyotards These besteht darin, dass das Projekt der Moderne "zerstört, liquidiert worden ist", hauptsächlich durch den Sieg der kapitalistischen Technowissenschaft. Ihr ist es gelungen, die Wertform des Wissens zum einzigen Kriterium zu erheben. Wissen wird zu dem Zweck entwickelt, um es Gewinn bringend zu verkaufen. Um dies zu ermöglichen, muss das Wissen transformiert werden. Ein Musterbeispiel eines solchen Prozesses ist der Computer, der den Herrschenden zur Sicherung ihrer Macht dient. Im globalen Konkurrenzkampf wird das digitale Wissen das Mittel der Macht:
"Die Entscheidungsträger versuchen das Gesellschaftliche mittels Input-Output-Matrizen im Gefolge einer Logik zu verwalten", schreibt Lyotard, "die die Kommensurabilität der Elemente und die Determinierbarkeit des Ganzen impliziert". Das Ergebnis des Computer-gestützten Wissens ist das Internet, das für ihn ein Instrument der Unsicherheit und des Rauschens darstellt. In diesem obskuren Medium wird nicht mehr ersichtlich, wer das Wissen steuert und wie es produziert wird.
Intensitätsdenken
Vor der Publikation von "La condition postmoderne" hatte Lyotard ein "wildes, anarchisches Denken" ausgebildet - eine in schillernde Sprache gekleidete, ausufernde Theorienlandschaft. Seine leidenschaftlichen Angriffe richteten sich gegen die Herrschaft der Wahrheit, die er speziell im dogmatischen Marxismus aufspürt:
"Der Wunsch nach Wahrheit, allererst ein Nährboden für den Terrorismus, schreibt sich in den unkontrollierten Gebrauch unserer Sprache ein, so sehr, dass jeder Diskurs seine Intention, das Wahre zu sagen, in einer Art unabänderlicher Vulgarität zu entfalten scheint."
Dagegen ruft Lyotard dazu auf, in den philosophischen Diskurs "jene Raffinesse einzuführen, die die gleiche Lockerungskraft besitzt, wie sie sich in den Werken der experimentalen Malerei, der Musik und des Kinos findet."
Hier ortet er ein Potenzial an Intensitäten, die die versteinerten gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen bringt.
"Menschen der Steigerung"
In seinen "Bemerkungen über die Wiederkehr und das Kapital" konkretisierte Lyotard seine Ausführungen über die Politik der Intensitäten, die von folgenden Gruppierungen ausgehen: Sie beschreibt Lyotard als eine ungeheure, unterirdische Bewegung, die sich der kapitalistischen Verwertungslogik entzieht.
Die Politik der Intensitäten, die damals in den Zentren der 1968er Revolte in Berkeley, Paris, Mailand und Berlin anzutreffen war, erfährt eine hymnische Verklärung: Diese subkulturellen Akteure wie Außenseiter, Hippies und experimentelle Künstler seien "Menschen der Steigerung"; eine Stunde ihres Lebens enthalte mehr Intensität als tausend Worte eines Berufsphilosophen.
Die romantisierende Vorstellung von einer Avantgarde von Außenseitern, die das kapitalistische System von innen aushöhlen könnten, teilte Lyotard damals mit Gilles Deleuze, Michel Foucault, Antonio Negri und Herbert Marcuse.
"Le différend"
Lyotard wandte sich nach seinen "wilden Jahren der Intensitätsphilosophie" wieder den Themen zu, die er in "La condition postmoderne" behandelt hatte. In dem 1983 publizierten Hauptwerk "Le différend"/"Der Widerstreit" ging es ihm um das Problem der Gerechtigkeit. Er definierte das Phänomen des Widerstreits folgendermaßen: "Ein Widerstreit ist ein Konfliktfall, zwischen wenigstens zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt."
Nachdem sich laut Lyotard die großen Erzählungen diskreditiert haben, weil in ihrem Namen Herrschaft ausgeübt wurde, bleibt die Frage offen, wie die Vielzahl der "kleinen Erzählungen", die auch im Alltag anzutreffen sind, miteinander in ein nicht hierarchisches Verhältnis gesetzt werden können. Dafür gibt es, so Lyotard, keine Lösung, weil ja eine Universalregel fehlt. Es bleibt nur, den Widerstreit als Aporie zu akzeptieren und zu versuchen, an pragmatischen Lösungsmöglichkeiten zu arbeiten.
Streit mit Habermas
Durch sein Hauptwerk löste Lyotard vor allem in Deutschland - ganz der Theorie gemäß - heftigen "Widerstreit" aus. Ihm wurde vorgeworfen, dass er, ähnlich wie sein Kollege Jacques Derrida, die europäische Rationalität zerstören wolle. Speziell Jürgen Habermas und Manfred Frank verstanden sich als Verteidiger des Projekts der Aufklärung, das Lyotard als usurpatorisch bezeichnete.
Es fielen auf beiden Seiten harte Worte. Sogar die Faschismuskeule wurde in einer Veranstaltung in Paris geschwungen. Der Vorwurf von Habermas lautete, dass sowohl Lyotard als auch Derrida in der Nachfolge Heideggers "das Haus des Seins noch auseinandernehmen möchten und im Freien jenes grausame Fest tanzen möchten, von dem Nietzsche in der Genealogie der Moral spricht".
Fröhliche Wissenschaft des Heterogenen
Lyotard ließ sich von den Anschuldigen nicht beeindrucken und verstand sich weiter als ein Theoretiker des Pluralen, Heterogenen. Im Gegensatz zu philosophischen akademischen Diskursen fand er die schillernde Revolte gegen den terroristischen Rationalitätsbegriff bei avantgardistischen Künstlern wie James Joyce, in dessen Roman "Ulysses" Lyotard seine Vorstellung von Pluralität verwirklicht sieht:
In Anlehnung an Friedrich Nietzsche und an seine eigene Frühphilosophie der "Intensitäten" ortet Lyotard eine fröhliche Wissenschaft, "in der die Vielfalt und Unübersetzbarkeit der Sprachspiele ihre Autonomie finden und nicht aufeinander reduziert werden."
Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
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