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EU-Flaggen vor blauem Himmel

"Das Soziale ist ein europäischer Grundwert"

Die europäische Bevölkerung droht sich zusehends dem Projekt Europa zu entfremden, schreibt Stephan Schulmeister in einem Gastbeitrag. Eine der Ursachen sei der Neoliberalismus, so der österreichische Ökonom: Dieser sei durch die Finanzkrise widerlegt und widerspreche außerdem europäischen Grundwerten.

Gesellschaft 13.08.2014

Neoliberale Entfremdung - europäische Desintegration

Von Stephan Schulmeister

Stephan Schulmeister

Daniela Kloock

Zum Autor

Stephan Schulmeister, Jahrgang 1947, Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Universitätslektor und selbständiger Wirtschaftsforscher, 1972 bis 2012 Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO).

Forschungsschwerpunkte: Spekulation auf den Finanzmärkten und ihre realwirtschaftlichen Konsequenzen, Einfluss des Zinsniveaus auf Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Staatsverschuldung, Analyse der längerfristigen Entwicklung der Weltwirtschaft. Lehrtätigkeit an der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien.

Seminare beim Forum Alpbach:

Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach leitet Stephan Schulmeister mit Garett Jones das Seminar "Makroökonomie – Die Rückkehr der Ideologien". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor - bisher erschienen:

Links:

Ö1 Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2014 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent

Seit etwa 30 Jahren hat sich die neoliberale Weltanschauung in den Köpfen der europäischen Eliten immer fester verankert: Individueller Eigennutz und Konkurrenz auf freien Märkten schaffen das ökonomisch Beste, Sozialstaatlichkeit hingegen schwächt Leistungsanreize und Eigenverantwortung, den Primat in ökonomischen Belangen übernimmt "der Markt", ihm hat sich die Politik anzupassen.

Die neoliberale Theorie liefert klare Empfehlungen: Aufgabe des Ziels von Vollbeschäftigung zugunsten der Preisstabilität, Deregulierung der Finanzmärkte, Regelbindung der Politik und damit Einschränkung ihres Handlungsspielraums, Senkung der Staatsquote durch Rückbau des Sozialstaats.

Dieses Programm wird in den 1990er Jahren umgesetzt: Die Fiskalpolitik (Maastricht-Kriterien) sowie die Geldpolitik (Statut der EZB) werden an Regeln gebunden, die Sparpolitik erzwingt eine Schwächung des Sozialstaats, die partielle Umstellung der Altersvorsorge auf Kapitaldeckung und die Deregulierung der Finanzmärkte beflügeln die Aktienkurse, "Lassen wir unser Geld arbeiten" wird zu einer Leitlosung.

Manisch-depressive Märkte

Der Aktiencrash 2000 und die nachfolgende Rezession lassen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung markant steigen, ab 2003 boomen die Aktienkurse wieder und mit ihnen auch die Rohstoff- und Immobilienpreise. Der gleichzeitige Verfall dieser drei wichtigsten Vermögenspreise 2007/2008 wird zur wichtigsten systemischen Ursache der großen Krise.

Dies aber können die Eliten nicht wahrnehmen: Wenn die "freiesten" Märkte, die Finanzmärkte, tatsächlich manisch-depressiven Schwankungen unterliegen, dann wäre das neoliberale Weltbild in seiner Gesamtheit zu entsorgen.

Folge: Als die Aktienkurse im März 2009 wieder zu boomen beginnen, setzt der Abwehrmechanismus der Verleugnung und Verdrängung voll ein, die "Finanzalchemie" wird sogar um ein neues "Spiel" erweitert, die Spekulation auf den Bankrott von Euro-Staaten – zuerst von Griechenland, dann kommen Irland, Portugal, Spanien und Italien dran. Die Zinsen für Staatsanleihen dieser Länder steigen drastisch und erzwingen weitere Einschnitte ins Sozialsystem, Südeuropa schlittert in eine Depression.

Zulauf für Anti-Europäer

Je mehr die Zinsen für die "Problemländer" steigen, desto stärker sinken sie für die "guten" Eurostaaten, insbesondere für Deutschland und seine "Satelliten". Die wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung in der EU vertieft sich, und zwar nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch innerhalb derselben. Immer mehr der durch Finanzkrise und Sparpolitik Deklassierten in Südeuropa sehen in Merkel, dem deutschen "Spardiktat" oder "den Deutschen" neue Feindbilder.

Umgekehrt bedienen Merkel und andere Politiker in Deutschland durch abfällige Bemerkungen über "die Griechen" die Ressentiments der heimischen Bevölkerung, insbesondere "ihrer" Deklassierten (etwa 7 Millionen Deutsche leben an oder unter der Armutsgrenze).
In Ländern wie Griechenland oder Italien werden Erinnerungen wach, was Deutsche bei ihnen vor 70 Jahren verbrochen hatten, die Gespenster der Vergangenheit, zu deren endgültigen Befriedung die EU gegründet worden war, regen sich wieder.

Fazit: Die Politik der EU hat es den rechtspopulistischen Parteien leicht gemacht, mit sozialen, nationalistischen und (daher) anti-europäischen Parolen Wählerstimmen zu gewinnen, insbesondere von den Deklassierten.

Gleichzeitig hat sie den BürgerInnen das europäische Projekt in doppelter Hinsicht entfremdet: Erstens widerspricht die neoliberale Weltanschauung den sozialen Grundwerten des europäischen Gesellschaftsmodells. Zweitens liegen die ökonomischen Stärken (Kontinental)Europas in der Realwirtschaft, während in den USA (und in Großbritannien) der Finanzsektor traditionell eine wesentlich größere Rolle spielt.

Die USA sind anders

Zum ersten Punkt: Über Jahrhunderte haben das Eingebundensein in Verbände (Gemeinden, Zünfte, Gewerkschaften, etc.) und das Ziel, individuelle und soziale Freiheit zu integrieren ("Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit") die Entwicklung der Gesellschaft in Europa geprägt. Der hohe Stellenwert des Sozialen entspricht spezifisch europäischen Grundwerten.

In den USA als einem Land der Eroberer und Einwanderer haben umgekehrt das individuelle Glücksstreben ("pursuit of happiness") und damit auch die räumliche und berufliche Mobilität höchsten Stellenwert. Arbeitnehmerparteien oder Gewerkschaften konnten sich nicht entwickeln, der Sozialstaat ist nur rudimentär ausgeprägt.

Worauf wir stolz sind

Befragt, worauf sie in Europa stolz sind, nennen die BürgerInnen regelmäßig das sozialstaatliche Gesundheitssystem, das öffentliche Bildungswesen und die Systeme der sozialen Sicherheit. Mit Übernahme der neoliberalen Leitlinien hat jedoch die EU selbst das Europäische Sozialmodell unterminiert.

Für den europäischen (Des)Integrationsprozess ist das Verhältnis von nationalen und europäischen Identitäten ("Nicht-Entfremdung") von fundamentaler Bedeutung. Identitäten entwickeln sich in Wechselwirkung zwischen "Dazugehören" zu einer Gruppe und "Abgrenzen" von anderen Gruppen.

So besteht die Österreicher-Identität einerseits in einem Gefühl des hier beheimatet Seins, kann aber andererseits auch durch die Abgrenzung gegenüber Italienern oder Deutschen gestärkt werden. Je stärker die positive Komponente der Identität ist im Vergleich zur negativen (Abgrenzungs-)Komponente, desto eher werden nationale und europäische Identitäten als kohärent empfunden.

Vernachlässigte Integration

Die jeweilige Ausprägung der "Identitäts-Hierarchie" prägt die europäische Geschichte. Zwischen 1848 und 1945 wurden die nationalen Identitäten immer stärker durch die Abgrenzung von anderen Nationen genährt, "Erbfeindschaften" stärkten das Nationalbewusstsein mehr als der Stolz auf die eigene Kultur.

Diese negativen Identitäten stauten Emotionen auf, die sich in zwei Weltkriegen entluden. Das Lernen aus diesen Katastrophen führte nach 1945 zum Prozess der europäischen Integration.

Dieser Prozess wurde allerdings durch den Primat des Ökonomischen geprägt, von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die EWG, die EU bis zur Währungsunion. Als das Europäische wird der gemeinsame Markt realisiert, als wichtigste "Grundfreiheiten" werden jene des Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit verankert.

Die Vernachlässigung der sozialen, politischen und kulturellen Integration stellte bis in die 1970er Jahre kein gravierendes Problem dar, weil gleichzeitig eine neue ökonomische "Spielanordnung" geschaffen wurde (Lernen aus der Weltwirtschaftskrise): Stabile Wechselkurse, Rohstoffpreise und Zinssätze unter der Wachstumsrate lenkten das Gewinnstreben auf Aktivitäten in der Realwirtschaft ("Realkapitalismus"), der Ausbau des Sozialstaats und die Sozialpartnerschaft stärkten Sicherheit und Zuversicht.

Das europäische Sozialmodell

Aus dem Zusammenwirken des Integrationsprozesses, der realkapitalistischen Rahmenbedingungen und des Ausbaus des Sozialstaats entwickelte sich das Europäische Sozialmodell. Es wurde zur Grundlage für das – zaghafte – Entstehen einer europäischen Identität.

Sie wurde durch den Übergang zur einer neoliberal-finanzkapitalistischen Spielanordnung, durch den damit verbundenen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung und durch die Schwächung des Sozialstaats immer mehr beschädigt.

Die Entfremdung zwischen den BürgerInnen und der EU vertiefte sich dadurch zusätzlich, dass sich die EU viel stärker an den Leitlinien neoliberaler Politik orientiert als die USA. Während letztere seit 25 Jahren eine primitiv-keynesianische Politik verfolgen, hält die EU am neoliberalen Sparkurs fest.

Neue Balance gesucht

Seit Ausbruch der Finanzkrise hat sich diese Diskrepanz verstärkt: In der EU schwächt die Austeritätspolitik den Sozialstaat weiter und lässt Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung dramatisch steigen. In den USA erholt sich die Wirtschaft wieder – nicht zuletzt durch eine expansive Politik.

Eine Einbettung der nationalen Identitäten in eine gemeinsame europäische Identität wird erst gelingen, wenn die Politik die Stärken des (traditionellen) europäischen Gesellschaftsmodells fördert.

Diese liegen nicht in der Finanzalchemie, sondern in (innovativen) Aktivitäten in der Realwirtschaft, sie liegen nicht in der Verfolgung des individuellen "Jeder ist seines Glückes Schmied", sondern im Streben nach einer Balance zwischen individueller Entfaltung und sozialem Zusammenhalt.

Sie liegen nicht in einer prinzipiellen Staatsfeindlichkeit, sondern in der Kombination von Konkurrenz auf Gütermärkten mit Kooperation auf der Ebene der Politik - durch den Staat als "unseren Verein". Kurz: Wir brauchen einen "New Deal für Europa".

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