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Statue: Justitia mit Waage in der linken Hand

Menschenrecht: Zahnlose Gesetze?

Die österreichische Juristin Renate Kicker skizziert in einem Gastbeitrag den Wandel des Menschenrechtsschutzes seit dem 19. Jahrhundert. Neben historischen Errungenschaften erwähnt sie auch Lücken im völkerrechtlichen Gefüge: Staaten wie Russland, China und die USA schieben heute das internationale Interventionsverbot vor, um sich der Kontrolle Dritter zu entziehen.

Forum Alpbach 17.08.2014

Zur Lage der Menschenrechte 2014

"Menschliche Autonomie wird durch einen Vertrag gesichert, das Recht. Sittlichkeit ist nicht relativ, sondern ein Gebot der praktischen Vernunft. Diese verlangt die Achtung der Würde anderer." Immanuel Kant, Freiheit durch Recht

Von Renate Kicker

Renate Kicker

Renate Kicker

Zur Autorin

Renate Kicker ist Assistenzprofessorin am Institut für Völkerrecht der KFU Graz, Direktorin des Europäischen Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie (ETC) sowie Vorsitzende des Menschenrechtsbeirates der Volksanwaltschaft. Sie war von 1997 bis 2009 Mitglied und zuletzt Vizepräsidentin des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter. Zu den Arbeitsgebieten gehören Fragen des Menschenrechtsschutzes sowie Multilevel Governance.

Aktuelle Publikation zum Thema des Gastbeitrags: Renate Kicker/Markus Möstl, "Standard-setting through monitoring. The role of Council of Europe expert bodies in the development of human rights", Council of Europe Publishing 2012.

Seminare beim Forum Alpbach:

Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach leitet Renate Kicker mit Luigi Nuzzo das Seminar "1814 – 1914 – 1989: Paradigmenwechsel in Völkerrecht und Politik". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor - bisher erschienen:

Links:

Ö1 Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2014 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent

Jüngste Meldungen, wie "Blutbad in Gaza" - 80 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, in einer Nacht getötet; "Krieg in der Ostukraine" - 295 Tote nach Abschuss eines Zivilflugzeuges durch Luftabwehrrakete; "Exodus der Christen: Wer sich weigert, dem bleibt das Schwert", tausende Christen auf der Flucht im Irak; werfen die Frage auf, warum das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 als Antwort auf die Gräuel der beiden Weltkriege programmatisch verbriefte Recht jedes Menschen auf Leben, Freiheit und Sicherheit diese Menschenrechtsverletzungen nicht verhindern konnte.

Verglichen mit den Millionen von Toten und Vertriebenen, die der 1914 begonnene Erste Weltkrieg verschuldet hat, sind die aktuellen Todeszahlen gering. Die grundlegenden Rahmenbedingungen des Völkerrechts - das "Paradigma" im Verständnis von Thomas S. Kuhn - haben sich seit den Anfängen eines völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes so entscheidend verändert, dass an ihn heute andere Erwartungen gestellt werden. Was aber kann man sich vom völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz heute erwarten?

Von den Anfängen des Menschenrechtsschutzes

Während die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Menschenrechte bereits in der Antike zu finden sind, bringt erst die Aufklärung positivierte Grundrechte, die ausschließlich durch den Staat gegenüber seinen eigenen Bürgern gewährleistet werden. Die Ursprünge des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes werden dem Gedenkjahr 1814 zugeschrieben.

In die Schlussakte des Wiener Kongresses, der auf der Grundlage des Ersten Pariser Friedensvertrages eine dauerhafte europäische Nachkriegsordnung schaffen sollte, wurde die Ächtung des Handels mit schwarzafrikanischen Sklaven und ihr Transport über den Atlantik nach Nordamerika und in die Karibik aufgenommen und als eine Verletzung der Grundsätze der Menschlichkeit und der allgemeinen Moral gebrandmarkt.

2014 - 200 Jahre später - werden laut Statistik jährlich 2,4 Millionen Menschen, darunter überwiegend Frauen und Kinder, Opfer von Menschenhandel und machen kriminelle Netzwerke mit der "Ware Mensch" einen Gewinn von 32 Milliarden Dollar pro Jahr.

Menschenhandel wird heute durch zahlreiche völkerrechtliche Verträge verboten und durch Verfahren zur Durchsetzung dieses Verbotes – z.B. Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern – bekämpft. Woran liegt es, dass das Völkerrecht offensichtlich nicht in der Lage ist, Menschen gegen diese moderne Form der Sklaverei hinreichend zu schützen?

Menschenrechtsschutz vs. staatliche Souveränität

Die Zielformulierung in der Satzung der Vereinten Nationen - "Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen", wird allgemein als Paradigmenwechsel im Völkerrecht verstanden.

Revolutionär neu ist die Selbstverpflichtung der Staaten auf Gewährleistung von international festgelegten Menschenrechten im innerstaatlichen Bereich, die Pflichten der Staaten gegenüber ihren Rechtsunterworfenen erzeugen. Die völkerrechtskonforme nationale Umsetzung der Menschenrechte wird zur erga omnes Verpflichtung gegenüber der Staatengemeinschaft, deren Verletzung zur internationalen Staatenverantwortlichkeit führt.

Paradoxerweise garantiert die UN-Charta den Staaten aber auch die Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, was bis heute die größte Hürde in der effektiven Durchsetzung der Menschenrechte darstellt.

Mit Bezugnahme auf das Interventionsverbot, das aus dem klassischen Völkerrecht der Koexistenz in das neue Kooperationsrecht übernommen wurde, wird auch die universelle Geltung der Menschenrechte in Frage gestellt.

Staaten, wie Russland, China und nicht zuletzt die Vereinigten Staaten von Amerika fordern regelmäßig, dass es das Recht jedes Staates sein müsse, die Menschenrechte entsprechend der Lage im eigenen Land zu definieren. Unter Berufung auf politische, ethnische, religiöse und kulturelle Unterschiede erscheint das Ziel der Universalität der Menschenrechte als Utopie.

Das ebenfalls in der Satzung verankerte Prinzip der territorialen Unversehrtheit und das Recht auf Selbstverteidigung der Staaten bildet eine weitere Grundlage für Rechtfertigungen für flagrante Menschenrechtsverletzungen. Das Recht auf Selbstbestbestimmung und nationale Befreiung durch separatistische Gruppen wiederum soll terroristische Maßnahmen legitimieren.

Internationale strafrechtliche Verantwortung

Zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte und blutige Bürgerkriege sind weder durch die Gründung der Vereinten Nationen, noch durch regionale Friedensorganisationen verhindert worden. Als Reaktion auf die Massaker an der Zivilbevölkerung in Ruanda und im Kosovo einigte sich die Staatengemeinschaft auf die völkerrechtliche Verankerung einer Verantwortung von Individuen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen.

Die Anklage und das Verfahren gegen Milosevic und schon zuvor die Auslieferung und Inhaftierung Pinochets werden zu Recht als Meilensteine in der Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes bezeichnet. Die Einrichtung eines allgemeinen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, dem sich bereits 122 Staaten unterworfen haben, muss wohl auch als Paradigmenwechsel im Völkerecht gelten, auch wenn die USA, Russland und die Volksrepublik China den Gerichtshof (noch) nicht anerkannt haben.

Maßnahmen gegen Menschenrechtsverletzungen

Während der Schutz der Menschenrechte in zwischenstaatlichen und innerstaatlichen bewaffneten Konflikten, unter Berufung auf die oben skizzierten verschiedenen Rechtfertigungsgründe, nach wie vor prekär ist, ist die Bilanz für krisenfreie Regionen positiver.

Die im Rahmen der Vereinten Nationen mit universeller Geltung, sowie in regionalen Organisationen (Europarat, Afrikanische Union, Organisation Amerikanischer Staaten) entwickelten und dort geltenden Menschenrechtsschutzdokumente sind so zahlreich, dass man jedenfalls nicht von einem Mangel an völkerrechtlichen Menschenrechtsstandards sprechen kann.

Die zur Kontrolle der Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen im innerstaatlichen Bereich eingerichteten Verfahren reichen von Staatenberichten bis zu Staaten- und Individualbeschwerden an internationale Organe – in Europa sogar an einen permanenten Menschenrechtsgerichtshof (EGMR).

Im Falle des aktuellen Krimkonfliktes hat die Staatenbeschwerde der Ukraine gegen Russland den Gerichtshof zu einer vorläufigen Maßnahme veranlasst, durch welche an beide Staaten appelliert wird "alle Kampfhandlungen einzustellen, die das Leben und die Gesundheit der Zivilbevölkerung gefährden". Das Problem liegt allerdings in der Schwäche der völkerrechtlichen Mittel zur Durchsetzung dieser vorläufigen Maßnahme.

Experten dürfen kontrollieren - im Prinzip

Ein präventives Verfahren zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen findet sich schon in Ansätzen auf der Grundlage der Brüsseler Antisklavereiakte (1890) und darauf bezüglicher bilateraler Einzelverträge. Mit dem darin begründeten Recht der Aufbringung und Durchsuchung von Schiffen war schon frühzeitig ein "scharfes" Instrument ins Repertoire des Menschenrechtsschutzes aufgenommen worden.

1989 - knapp hundert Jahre später - erlaubt die Europäische Antifolterkonvention einem Expertenorgan alle Orte, wo Personen gegen ihren Willen angehalten werden oder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden können (von Haftanstalten, über die Psychiatrie zu Pflegeheimen), unangemeldet zu kontrollieren und Empfehlungen abzugeben. Solche Vorortbesuche durch internationale Organe ebenso wie die Urteile eines internationalen Gerichtshofes stellen einen weitgehenden Eingriff in die staatliche Souveränität dar. Das Prinzip des Interventionsverbotes gebietet allerdings, dass die Staaten sich einem derartigen Kontrollsystem freiwillig unterwerfen und ihre grundsätzliche Zustimmung dazu geben müssen.

Dieser Freiwilligkeit wird zuweilen durch internationalen Druck auch nachgeholfen. Allen postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas, einschließlich Russlands, die nach dem Zerfall der Sowjetunion im Gedenkjahr 1989 rasch in den Europarat aufgenommen worden waren, wurde die Bedingung gestellt binnen Jahresfrist die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Antifolterkonvention für sich als verbindlich zu erklären.

Damit ist zumindest für die 47 Europaratsstaaten, was den Schutz bürgerlicher und politischer Rechte betrifft, kein Rückzug auf die Berufung auf innere Angelegenheiten mehr möglich.

Sanktionen – cui bono?

Die oben angeführten Schlagzeilen, die von jüngsten massiven Menschenrechtsverletzungen zeugen, sind offensichtlich Ausdruck der in der UN-Satzung selbst verankerten Beschränkungen für einen wirksamen Menschenrechtsschutz, insbesondere in zwischenstaatlichen oder innerstaatlichen Konfliktsituationen, bzw. wenn staatliche Interessen massiv betroffen sind.

Die Reaktion der internationalen und europäischen Staatengemeinschaft ist zögerlich und beschränkt sich meist auf wirtschaftliche Sanktionen. Aber wen treffen diese Sanktionen? Überwiegend wieder nur die Zivilbevölkerung – sowohl auf der Seite der Sanktionierenden als auch und insbesondere auf der Seite der Sanktionierten. Ob der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz in Form individueller strafrechtlicher Verantwortung überhaupt greift, ist fraglich. Jedenfalls wird bis dahin noch viel Unrecht geschehen.

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