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Ein Arzt untersucht das Herz eines Patienten.

Hypochondrie, eine echte Krankheit

In Film und Literatur werden sie als Lachnummer eingesetzt, im echten Leben von ihrer Umgebung belächelt und selten ernst genommen: die Hypochonder. Dabei sind viele "Scheinkranke" nicht eingebildet, sondern wirklich krank, sie leiden an einer hypochondrischen Störung.

Psychologie 21.08.2014

So lautet die korrekte Bezeichnung der Krankheitsangst nach dem anerkannten Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) .

Literarisches Echo einer Störung

Ö1 Sendungshinweis:

Dem Thema widmen sich auch die Dimensionen am 20. 8. Um 19:05.

Literatur:

  • "Die Angst vor Krankheit" von Hans Morschitzky und Thomas Hartl, Patmos Verlag 2012
  • "Hypochondrie und Krankheitsangst" von Gaby Bleichhardt und Alexandra Martin, Hogrefe 2010.
  • "Schöner Leiden" von Ulf Geyersbach und Rainer Wieland, Argon Verlag 2004 (vergriffen).

"Morgens fieberfrei. Schwarze Zunge zum Zeichen der Infektion. Im Bett gefrühstückt. Leichte Schädelschmerzen. Sehr matt.", notiert Thomas Mann am Weihnachtstag 1951 in sein Tagebuch. Zeitlebens hat der deutsche Erzähler und Nobelpreisträger seinen Körper genau beobachtet und Missempfindungen dokumentiert. Mit seiner Krankheitsangst befindet sich der Autor des Sanatorium-Romans "Der Zauberberg" in bester Gesellschaft. Denn auch andere berühmte Persönlichkeiten waren für ihre hypochondrischen Selbstreflexionen bekannt, der Philosoph Immanuel Kant genauso wie die Schriftsteller Franz Kafka oder Adalbert Stifter, um nur ein paar zu nennen.

Viele haben ihre Krankheitsfixierung literarisch verwertet. Am bekanntesten ist wohl der 1673 uraufgeführte Klassiker von Molière "Le malade imaginaire", dessen Hauptfigur Argan als Paradebeispiel eines Hypochonders gilt. Auch zeitgenössische Prominente zelebrieren ihre Krankheitsangst, z.B. der Filmregisseur Woody Allen und der deutsche Komiker Harald Schmidt.

Ist der Hypochonder nun eine reine Kunst- und Witzfigur oder gibt es ihn tatsächlich? Ja, sagt die moderne Psychologie. Es handle sich um eine ernstzunehmende psychische Erkrankung, bei der an sich harmlose Beschwerden als schwere Krankheit fehlinterpretiert werden.

Aber nicht jede Krankheitsangst ist gleich krankhaft, wie der Psychologe und Psychotherapeut Hans Morschitzky, der in der Landes-Nervenklinik in Linz sowie in freier Praxis arbeitet, gegenüber science.ORF.at betont: "Kurzfristig ist es doch ganz normal, sich um seine Gesundheit zu sorgen, etwa die zwei, drei Wochen bis man auf einen Befund wartet. Wer keine Krankheitsängste hat, ist übrigens auch nicht ganz gesund." Denn das bedeute, dass man nichts ernst nimmt.

Langer Weg zur Diagnose

Das ICD-10 listet daher entsprechende Ein-und Ausschlusskriterien für die Störung. Ein Betroffener lässt sich demnach nicht davon überzeugen, gesund zu sein; selbst wenn alle Befunde dafür sprechen. Weiters entscheidend ist die Dauer dieser Überzeugung, wie Gabriele Bleichhardt, Psychologin an der Philipps-Universität Marburg, gegenüber sience.ORF.at erklärt: "Wenn die Angst vor einer Krankheit ein halbes Jahr lang anhält und die Person jeden Tag beschäftigt, gehen wir davon aus, dass eine Hypochondrie vorliegt."

Laut Morschitzky entscheidet ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen der persönliche Leidensdruck über die Krankheitswertigkeit. Denn anders als beim medialen Bild des Hypochonders, der mit seiner Wehleidigkeit kokettiert, leidet ein wirklich Betroffener tatsächlich massiv. Die gängigen Klischees sind ein zusätzliches Problem auf dem Weg zu einer Diagnose.

Wie etwa soll ein Hausarzt einen Patienten davon überzeugen, dass er vielleicht ein psychisches Problem hat, wenn dieser überzeugt ist, von einer "echten" Krankheit bedroht zu sein, unter dem Motto: "Mein Arzt glaubt, ich hab's im Kopf und nicht am Herzen." Oft verlieren die Ärzte betroffene Patienten, weil sich diese nicht ernstgenommen fühlen. Gaby Bleichhardt weiß, was das in der Praxis bedeuten kann. Die Patienten, die in ihr Hypochondrie-Programm kamen, hatten davor durchschnittlich bereits elf Jahre mit Krankheitsängsten zu tun gehabt.

Das Bild des Hypochonders bei Molière:
"Allen Menschen war er lästig. Er war unsauber, widerwärtig, immer mit einem Einlauf im Bauch, schnaufend, hustend, spuckend, ohne Geist, langweilig, launisch, mühsam für seine Umgebung, Tag und Nacht eine Plage für das Personal." So beschreibt die Ehefrau den eingebildet Kranken.

Hypochondrie als Mode

Um negative Klischees zu vermeiden, sprechen viele Experten lieber von Krankheitsangst - und streng genommen hat der Begriff Hypochondrie auch einen etwas anderen Ursprung, was ein Blick in seine Geschichte belegt.

Das griechische Wort hypochondrion bezeichnete in der Antike den Bauchraum unter dem Rippenknorpel, wo Leber, Galle, Milz und Magen sitzen. Es war also in erster Linie eine Erkrankung des Verdauungsapparates. Im Lauf der Jahrhunderte gesellten sich zunehmend seelische Beschwerden zum Krankheitsbild. Im 18. Jahrhundert verlagerte es sich völlig aufs Geistige und die Hypochondrie avancierte zur echten Modekrankheit.

Sie galt als Zeichen höherer geistiger Veranlagung. Wie das bei Moden ist, halten diese nicht ewig. Und so wurde die Krankheit im Lauf der Zeit von einer Auszeichnung wieder zu einem Defizit. Um die Jahrtausendwende wurde sie dann im ICD-10 als hypochondrische Störung festgeschrieben.

Optimistischer Fehlschluss versagt

Aber wie oder warum wird ein gesunder Mensch zum Hypochonder im heutigen Sinn? Einig sind sich die Experten, dass üblicherweise mehrere Faktoren zusammenkommen müssen. Eine Rolle spielt die Persönlichkeit. D.h. etwa, dass Menschen, die schon als Kinder selbst sehr ängstlich waren bzw. ängstliche Eltern hatten, häufiger betroffen sind.

Laut Gaby Bleichhardt haben hypochondrische Patienten von Natur aus eine sehr körperbezogene Wahrnehmung. Meist kommen dann noch konkrete Auslöser dazu: Todesfälle im Umfeld, schwere Erkrankungen von Familienmitgliedern oder Freunden. Die Betroffenen verlieren dadurch eine grundlegende menschliche Begabung, wie Bleichhardt vermutet, nämlich die zum optimistischen Fehlschluss.

Dieser hilft gesunden Menschen, Risiken für sich eher zu unterschätzen bzw. das positive Risiko ein bisschen zu überschätzen. D.h., sie rauchen, obwohl sie wissen, dass sie Lungenkrebs bekommen könnten, und sie spielen Lotto, obwohl die Chance zu gewinnen sehr niedrig ist. "Wir vermuten, dass der optimistische Fehlschluss bei vielen hypochondrischen Menschen nicht mehr so gut funktioniert, weil sie in ihrer Biografie Erlebnisse hatten, die das Thema Krankheit und Tod sehr nahe gebracht haben", so Bleichhardt.

Beim Hypochonder verschiebt sich also der Fokus in Richtung Restrisiko. Das führt meist zu einem übersteigerten Sicherheitsverhalten. Der Betroffene schont sich, läuft von Arzt zu Arzt und führt regelmäßig Selbstuntersuchungen durch. Der eine misst täglich mehrmals seinen Blutdruck, andere tasten sich nach körperlichen Veränderungen ab.

Suche nach Bestätigung im Internet

Eine weitere typische Marotte des Hypochonders ist die gezielte Suche nach medizinischen Informationen. Niemals war das so einfach wie heute, in Zeiten des Internets. Dort findet sich zu jedem Symptom eine passende Krankheit oder gleich mehrere. In diesem Zusammenhang haben Medien vor wenigen Jahren den Begriff der "Cyberchondrie" geprägt.

Es lässt sich noch nicht ganz klar beantworten, ob es sich nur um ein mediales Modewort handelt oder ob wirklich was dahinter steckt, meint die Psychologin Christiane Eichenberg von der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien gegenüber science.ORF.at: "Cyberchondrie ist sicher keine neue eigenständige Störung, aber aus der klinischen Praxis wissen wir, dass gesundheitsbezogenen Internetinformationen die Gesundheitsängste von entsprechend veranlagten Menschen verstärken können."

Prinzipiell ist es nicht verkehrt, sich bei Beschwerden kundig zu machen, das Problem des Hypochonders ist das Maß und die Art der Recherche. Hypochonder suchen nämlich so lange weiter, bis sie eine Bestätigung bekommen. Sie sind nicht offen für Gegenbelege. Zudem sehen sie die Informationsgüte weniger kritisch als durchschnittliche Nutzer. Das hat mitunter gravierende Folgen, z.B. destruktive Selbstbehandlungsmaßnahmen. Sie bestellen beispielsweise eigenmächtig im Internet Medikamente, die nicht geeignet oder sogar ungesund sind.

Befragungen haben zudem gezeigt, dass medizinische Foren von hypochondrisch veranlagten Personen vermehrt genutzt werden. 25 Prozent der Nutzer haben eine entsprechende Neigung. Das ist deutlich mehr als in der Allgemeinbevölkerung. Wobei man einschränken muss, dass es nur wenige, sehr unterschiedliche Studien bzw. Schätzungen zur generellen Verbreitung gibt, sie liegen zwischen ein und zehn Prozent.

Hohe Gesundheitserwartungen

In manchen Gruppen ist die Häufigkeit jedenfalls deutlich höher, z.B. bei Patienten in Arztpraxen. Auf der Jagd nach einer Diagnose konsultieren Hypochonder viel häufiger einen Mediziner als andere, was manchmal zu einem regelrechten "Ärzte-Hopping" ausartet. Dieses Sicherheitsverhaltens ist auch für das Gesundheitssystem problematisch. Nach Schätzungen sind krankheitsängstliche Menschen zwei bis dreimal so teuer wie Durchschnittsbürger. Dabei lässt sich die Störung mittels kognitiver Verhaltenstherapie recht gut behandeln, wie Bleichhardt aus ihrer Praxis weiß: "Nicht alle Betroffenen können geheilt werden, aber eine deutliche Verbesserung ist fast immer möglich." Bei einer solchen Therapie lernen Patienten beispielsweise, normale körperliche Symptome, wie z.B. ein erhöhter Puls nach Anstrengung, wieder als solche wahrzunehmen.

Der Verlust einer "normale" Einschätzung von körperlichen Empfindungen ist vielleicht mit ein Grund, warum die hypochondrische ähnlich wie andere psychische Störungen zunimmt, wie das viele Psychologen in ihrer Praxis beobachten. Laut Morschitzky sind die Heilserwartungen an die Medizin heute deutlich höher. Trotz all ihrer Fortschritte, scheint es - in unserer auf Gesundheit fixierten Gesellschaft - schwieriger denn je, gesund zu sein. "Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen", heißt es etwa in Definition der Weltgesundheitsorganisation. Kranksein wirkt so gesehen schon fast normal oder um mit Karl Valentin zu sprechen: "Was, g'sund bin i! Für was bin denn i dann bei der Krankenkasse?"

Eva Obermüller, science.ORF.at

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