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Ein weiblicher Cyborg mit einem verbesserten Techno-Auge schaut in die Kamera

Therapie oder Optimierung: Wo ist die Grenze?

Prothesen, die über das Nervensystem gesteuert werden, ein Ohrimplantat, das Gehörlose hören lässt: Sie stehen im Kontrast zu futuristischen Cyborgs, die den Menschen ohne therapeutischen Nutzen optimieren wollen. Wo die Grenze zwischen medizinisch nötigem Eingriff und Lifestyle liegt, diskutierten Experten in Alpbach.

"Human enhancement" 25.08.2014

"Klüger, besser, schöner... - Ist der Mensch optimierbar?" - diese Frage stellten sich unter anderem die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser und der Philosoph Peter Kampits.

"Human enhancement" als Teil jeder Kultur

"Human enhancement", also der Wunsch, unsere natürlichen Fähigkeiten zu erweitern, ist nicht neu, wie auch die Vision vom "Cyborg" (engl. cybernetic organism), einem Hybriden aus lebenden Organismus und Maschine. Diese Idee hat der österreichsiche Künstler und Schriftsteller Raoul Hausmann schon in den 1920er Jahren aufgebracht, so Karin Harrasser, die nicht nur Leiterin des Departments für Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz ist, sondern auch ein Buch über den "Körper 2.0" geschrieben hat. Hausmann habe damals bereits ein utopisches "Optophon” beschrieben. Dieses Gerät sollte optische Signale in akustische umwandeln, also Sichtbares hörbar machen und so die menschliche Wahrnehmung synästhetisch erweitern.

Zur Erweiterung unserer Sinne müssen wir, damals wie heute, auf technische Hilfsmittel zurückgreifen - nur heißen sie eben nicht mehr Optophon sondern Google Glass, oder kommen überhaupt in Gestalt operativer Eingriffe zur permanenten Veränderung daher, so Harrasser. Ihr zufolge gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Hätten die Visionäre von früher mit dem verbesserten Menschen noch ein "kollektives Ziel" verfolgt, um neue Schnittstellen in der Gesellschaft zu schaffen, verspricht technische Körpermodifikation heute individuelles Glück.

In den vergangenen Jahren hat sich Harrasser mit der "feinen Linie" zwischen dem Potenzial technischer Erweiterungen und einem "Imperativ der Selbstoptimierung" beschäftigt: Die Kulturwissenschaftlerin betont, dass diese Grenze zwischen selbstbestimmtem Wunsch und Selbstoptimierung unter Druck schon jetzt nicht mehr trennschaft verläuft.

Optimierungszwang in der Leistungsgesellschaft

Haben wir diese Entwicklung überhaupt noch unter Kontrolle? In seinem Eröffnungsstatement weist Philosoph Peter Kampits auf unsere leistungsorientierte Gesellschaft hin: "Dieses Leistungsprinzip, dem wir alle unterliegen, ist ein Fetisch geworden, der uns nicht zuletzt zu dieser Optimierung mitveranlasst, ich würde sogar sagen zwingt". Wer definiert, was "normal" und was fehlerhaft und krank ist?

Neil Harbisson, der als weltweit erster Cyborg bekannt wurde, hat seinen Körper technisch erweitert, um ein medizinisches Problem zu beheben. Der britische Künstler und Cyborg-Aktivist wurde mit der seltenen Farbsinnstörung Achromatopsie geboren und konnte nur Grautöne sehen. Der "eyeborg", eine mit einem im Schädel implantierten Chip verbundene Antenne, ermöglicht Harbisson, Farben zu "hören". Der "eyeborg" funktioniert wie ein elektronisches Auge, das Licht in Töne umwandelt.

Waschmittelabteilung als Symphonie

Der "Cyborg" Neil Harbisson im Februar 2013

EPA

Der "Cyborg" Neil Harbisson im Februar 2013

Harbisson kann so aber nicht nur für das menschliche Auge sichtbare Farben als Töne wahrnehmen, er "hört" auch für gewöhnliche Menschen unsichtbares infrarotes und ultraviolettes Licht. Auf der Website des "Cyborg Project" beschreibt er vor allem das Gefühl in der Waschmittelabteilung im Supermarkt als besonders aufregend: "Die Reihen mit den vielen bunten Flaschen hören sich an wie eine Symphonie."

Seit dem letzten Upgrade ist der "eyeborg" auch Bluetooth-fähig. So kann sich Harbisson mit verschiedenen Geräten in seiner Umgebung oder mit dem Internet verbinden - und Telefonanrufe würden direkt in seinen Kopf weitergeleitet, erklärte er kürzlich in einem Interview mit dem "Guardian”.

Seit 2004 ist Harbisson offiziell von der britischen Regierung als Cyborg anerkannt und hat als erster Mensch ein Passfoto, das seine Cyborg-Natur zeigt. Für ihn ist "ein Cyborg zu werden nicht nur eine Lebensentscheidung", wie er sagt, "es ist ein künstlerisches Statement - ich behandle meinen eigenen Körper und mein Gehirn als Skulptur".

Human 2.0 - Biohacker Tim Cannon

Eine Gruppe von Biohackern geht noch einen Schritt weiter. Programmierer, Bastler und Künstler um den Amerikaner Tim Cannon arbeiten an der Fusion von Mensch und Technik, um die "menschlichen Defizite" auszugleichen. In ihrem letzten Projekt, "Circadia”, wurde Cannon etwa ein Chip implantiert, der biomedizinische Daten wie die Körpertemperatur ausliest und via Bluetooth überträgt.

Das war jedoch nicht das erste Projekt. Cannon ist schon mit einem subkutanen Magneten und einem RFID-Chip ausgestattet - beide sind in seiner Hand implantiert und haben keinerlei medizinischen Nutzen. Im Interview mit der "Zeit" erläutert Cannon seine Philosophie: "Es ist vor allem ein psychologischer Unterschied. Etwas, was du nur trägst, ist kein Teil von dir. Wenn es dagegen in dir steckt, fühlst du dich damit verbunden und nutzt es viel intensiver."

Bleibt die Frage, wie man die Grenzen definiert: Wo endet die medizinisch begründete technische Körperveränderung, wo beginnt man, Evolution zu spielen und einen "Mensch 2.0" zu entwickeln? Wie verhindert man Druck oder gar Zwang auf den Einzelnen, sich technischer Körperveränderung zu unterziehen, um in der Leistungsgesellschaft immer "produktiver" zu werden?

Das Thema geht weit über medizinische oder wissenschaftliche Fragestellungen hinaus - hinein in eine ethische, rechtliche und letztlich soziale Diskussion, die nicht nur die "wanna-be” Supermenschen der Biohacker-Szene, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft.

Manuela Ringbauer, Teilnehmerin an der "Medienakademie" des Europäischen Forum Alpbach 2014

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