2014 - 1914 - 1939
Von Heidemarie Uhl
Das Gedenkjahr 2014/1914 hat den Ersten Weltkrieg, der ungeachtet unterschiedlicher nationaler Traditionen eher im Schatten eines transnational-europäischen Gedächtniskanons stand, in den Rang eines Zentralereignisses katapultiert - als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

APA - Robert Jäger
Heidemarie Uhl ist Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Veranstaltung:
Am 1.9., 17 Uhr, finden an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter dem Titel "Hitlers Krieg" Vorträge und Diskussion zum Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren statt.
ORF-Programmschwerpunkte:
Unzählige Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, Buchveröffentlichungen zeigen das breite Interesse an 1914, und zwar nicht nur in Ländern wie Großbritannien, wo die heroische Erinnerung an den "Great War" in einem ungebrochenen nationalen und militärischen Traditionszusammenhang steht, sondern auch in den "Verliererstaaten" Deutschland und Österreich.
Erster Weltkrieg rückt näher
Gedächtnis ist immer von den Interessen der Gegenwart bestimmt. Die durchaus überraschende Aufmerksamkeit für den Ersten Weltkrieg wirft die Frage auf, welche gegenwärtigen Erinnerungsbedürfnisse damit angesprochen werden. Der Cambridge-Historiker Christopher Clark, Verfasser des meistrezipierten und kontroversiell diskutierten Buches "Die Schlafwandler", hat konstatiert, dass der Erste Weltkrieg in den letzten Jahrzehnten näher an unsere Gegenwart gerückt ist.
Der Zerfall der kommunistischen Staatenwelt hat auch die bipolare Weltordnung abgelöst. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges wurde das Gesetz des Handelns im Konfliktfall durch die sprichwörtlichen "roten Telefone" in Washington und Moskau symbolisiert. Die Nachkriegsjahrzehnte waren von der Angst vor einem Atomkrieg mit globalen Auswirkungen beherrscht. In der multipolaren Welt seit 1989 sind regionale militärische Auseinandersetzungen vorherrschend, und auch die europäischen Staaten sind zu verantwortlichen Akteuren im internationalen Beziehungsgeflecht geworden.
Die Lehren aus der Geschichte eines "schlafwandlerischen" Taumelns in die Katastrophe, das Christopher Clark aufzeigt, richten sich somit auf die Ebene der politisch-militärischen Entscheidungsprozesse. Clarks irritierender Befund liegt ja gerade darin, dass vor allem die Logik der Bündnissysteme für den Kriegsausbruch ausschlaggebend war, ungeachtet der Frage, welche Staaten und welche handelnden Personen dafür mehr Verantwortung tragen.
Ohnmacht als Grundgefühl
Der aktuelle Konflikt mit Russland wirkt insofern als Déjà-vu - wie 1914 scheinen "Schlafwandler am Steuer" zu sein, die über keine Exit-Strategie verfügen, schreibt Michael Stürmer in "Die Welt". Das "Gefühl der Unausweichlichkeit" (Otto Friedrich in der "Furche"), das sich mit dem Blick auf 1914 verbindet, bezieht sich jedoch nicht allein auf militärische Konflikte. Die Ohnmacht angesichts eines scheinbar zwangsläufigen und unaufhaltsamen Schlitterns in die Katastrophe ist seit der Finanzkrise ein allgemein feststellbares Grundgefühl.
Der historische Bezugspunkt 1939-1945 interveniert grundlegend anders und weitaus tiefgreifender in die Gegenwartsgesellschaft als 1914-1918. Der Zweite Weltkrieg ist nicht auf dieselbe Weise erinnerbar wie der Erste: Die Verantwortung liegt eindeutig bei Hitlerdeutschland, und die Soldaten der Wehrmacht können nicht als unschuldige Opfer des Krieges erinnert werden. Die Verstrickung der Wehrmacht in Kriegsverbrechen und in den Judenmord ist unzweifelhaft erwiesen.
Der Zweite Weltkrieg ist somit untrennbar mit dem "Zivilisationsbruch Auschwitz" verbunden. Der Holocaust kennzeichnet die extremste Antithese zu den ethisch-moralischen Grundlagen unserer Gegenwart. Daran haben auch die Debatten um eine Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus, Hitler und Stalin, Holocaust und GULAG nichts geändert.
"1939" ist ein gesellschaftspolitischer Auftrag
Die Planung und Durchführung der Ermordung der europäischen Juden wäre jedoch ohne die Unterstützung und Kollaboration breiter gesellschaftlicher Kreise nicht möglich gewesen. Schuld und Verantwortung beschränkt sich daher nicht auf die politisch-militärische Ebene.
Die Fragen, die sich daraus ergeben, haben einen nachhaltigen Bezug zur Gegenwart: Die NS-Gewaltherrschaft konnte sich in einer modernen, demokratischen Gesellschaft etablieren - in jenen gesellschaftlichen Strukturen der Moderne, in denen wir auch heute leben. Der Holocaust verweist damit auf ein Potenzial an Barbarei, dem es auch weiterhin entgegenzuwirken gilt.
Während 1914 das Versagen der Eliten und die Ohnmacht des Einzelnen angesichts des unausweichlichen Schlitterns in die Katastrophe vor Augen führt, verbindet sich mit 1939 ein gesellschaftspolitischer Auftrag: Stärkung des Demokratiebewusstseins, der Menschen- und Bürgerrechte, Abgrenzung zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus.
Das Gedenkjahr 2015/1945, in dem europäisch und global an das Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Gewaltherrschaft erinnert wird, könnte dazu einen weiteren Anstoß geben.