RCT sind die drei magischen Buchstaben der klinischen Medizin. Das Kürzel steht für "randomized controlled trial" und bezeichnet ein ausgeklügeltes Studiendesign, das in der Fachgemeinde quasi als Goldstandard gilt. Letztlich geht es bei solchen Studien um die Beantwortung der Frage: Wirkt das Medikament X bei der Behandlung der Krankheit Y? Hier geht es um Menschen und deren Gesundheit - und darüber hinaus auch um eine Menge Geld, die der Staat in das Gesundheitssystem steckt.
Der Stachel aus Stanford
Insofern könnte das Ergebnis einer aktuellen Studie im Fachblatt "JAMA" auch auf Interesse jenseits akademischer Kreise stoßen. Hauptautor ist der Mediziner John Ioannidis. Wenn Ioannidis eine Studie publiziert, gehen seine Fachkollegen vorsorglich in Deckung. Denn der Direktor des Meta-Research Innovation Center in Stanford wird nicht müde, auf Statistikfehler, blinde Flecken und Widersprüche in medizinischen Publikationen hinzuweisen.
So ist es auch diesmal. Widersprüchlich sind nämlich mitunter die Schlussfolgerungen, die aus den Rohdaten klinischer Studien gewonnen werden. Ioannidis und sein Team suchten in der Datenbank "Medline" nach bereits veröffentlichten RCTs, die ein zweites Mal bewertet wurden. Wie die Forscher schreiben, kamen die neuen Autorenteams in 35 Prozent der Fälle zu anderen Interpretationen. Sie rieten entweder zur Behandlung anderer Patienten (8 Prozent), schränkten den Kreis der zu behandelnden Patienten ein (9 Prozent) oder erweitern ihn (24 Prozent).
"Komplex, aber nicht unverlässlich"
Grundlegende Meinungsverschiedenheiten in einem Drittel der Fälle bei identem Datenmaterial - kein berauschendes Ergebnis für einen Goldstandard. Ist die klinische Forschung unverlässlich? "Nein, unverlässlich ist sie nicht. Aber sie ist komplex", sagt Hanno Ulmer von der Medizinischen Universität Innsbruck. Rohdaten könne man mit unterschiedlichen Methoden bzw. statistischen Tests auswerten. Und es gebe oft nicht nur einen richtigen, sondern gleich mehrere Wege, das zu tun.
Insofern liege es in der Natur der Sache, dass Neuanalysen auch zu abweichenden Schlussfolgerungen führen könnten - wenngleich ihn der hohe Prozentsatz "doch ein bisschen überrascht", so der Leiter des Departments für Medizinische Statistik, Informatik und Gesundheitsökonomie.
Wie wirksam ist Tamiflu?
Die von Ioannidis aufgezeigten Meinungsunterschiede sind jedenfalls nicht die ersten dieser Art. So hat etwa die Cochrane Collaboration im Frühjahr klinische Studien zum Grippemittel Tamiflu neu ausgewertet und kam zu durchaus anderen Ergebnissen als der Hersteller, die Pharmafirma Roche.
Das Medikament sei weniger wirksam als bisher dargestellt, schrieben die Cochrane-Forscher in ihrem Bericht. Es könne zwar die Dauer von grippeartigen Symptomen verringern - aber nur um einen halben Tag. Das mag nach wenig klingen, zumal, wenn man in Rechnung stellt, dass Tamiflu in vielen Ländern millionenfach für den Fall einer globalen Epidemie eingelagert wurde.
Ulmer gibt aber zu bedenken: "Wenn eine Krankheit zu lebensgefährlichen Komplikationen führt, wie das beispielsweise bei der Schweinegrippe der Fall sein kann, dann ist ein halber Tag gar nicht so wenig." Forscher der MedUni Wien sehen das ähnlich. Laut einer Studie vom Mai dieses Jahres senken Neuroaminidasehemmer wie Tamiflu oder Relenza die Todesrate von Schweinegrippe-Patienten um 20 Prozent.
Duell der Deutungen
Dass die Deutung klinischer Daten auch von der Perspektive und der Art der Fragestellung abhängig ist, weiß freilich auch Ioannidis. Er schreibt im Fachblatt "JAMA": Ob und inwieweit Widersprüche zwischen Autorenteams die klinische Praxis verändern würden, sei kaum abzuschätzen. "Dennoch, wenn Diskrepanzen auftreten, dann ist zumindest unklar, welcher der beiden Artikel mehr Einfluss hat." Detail am Rande: Die Originalartikel werden meist in den renommierteren (und somit einflussreicheren) Journalen veröffentlicht, obwohl Neuanalysen in der Regel weniger Fehler aufweisen.
Auch die Frage, ob die Rohdaten klinischer Studien öffentlich gemacht werden sollen, ist umstritten. Einerseits führt sie fraglos zu mehr Transparenz "und letztlich auch zu einer Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität", sagt Hanno Ulmer im Gespräch mit science.ORF.at. "Ich bin dafür, dass auch Pharmafirmen ihre Daten offen legen sollten. Nicht generell, aber den Behörden und Wissenschaftlern sollten sie zur Verfügung stehen - sofern diese begründen können, wozu sie die Daten brauchen und was sie damit machen."
Rohdaten: Gebrauch vs. Missbrauch
Es gibt allerdings auch Argumente dagegen. Bei sensiblen Patientendaten etwa ist Transparenz wohl kaum wünschenswert. Selbst Analysen können - unter dem Deckmantel des Erkenntnisgewinns - für andere Zwecke missbraucht werden. So geschehen bei einer Studie, die Mitte der 90erJahre von Wissenschaftlern des amerikanischen National Cancer Institutes und anderer staatlicher US-Forschungszentren initiiert wurde.
12.000 Minenarbeiter wurden darin untersucht, Ziel war es herauszufinden, ob Dieselpartikel krebserregend sein können oder nicht. Die Frage dürfte mittlerweile entschieden (und mit einem Ja zu beantworten) sein, die amerikanische Minenindustrie jedenfalls versuchte damals mit allen Mitteln die Studie zu verhindern.
Die "Mining Awareness Resource Group" heuerte Rechtsanwälte an und forderte unter anderem Einblick in die Rohdaten sowie das Recht, eine eigene Analyse vornehmen zu können. Selbst Fachzeitschriften wurde mit rechtlichen Konsequenzen gedroht, falls sie entsprechendes Material publizieren würden. Die juristischen Angriffe konnten die Veröffentlichung der Studie letztlich nicht verhindern. Verzögern allerdings schon: Die "Diesel Exhaust in Miners Study" wurde 2012 veröffentlicht, nach 17-jährigem Rechtsstreit.
Robert Czepel, science.ORF.at
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