Standort: science.ORF.at / Meldung: "Was hat das mit Ökonomie zu tun?"

Profil eines Menschen, im Vordergrund: mathematische Formeln

Was hat das mit Ökonomie zu tun?

Es herrscht eine Krankheit des Formalismus in der Ökonomie, meinte bereits Milton Friedman, einer ihrer wichtigsten Vertreter im 20. Jahrhundert. Fachzeitschriften seien voll mit mathematischen Ableitungen von Annahmen, die selbst höchst fraglich sind, und die realen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Probleme würden vernachlässigt.

Interview 03.10.2014

Über diesen Trend und über Studenten und Studentinnen, die sich dagegen wehren, spricht Reinhard Pirker in einem Interview.

Zur Person:

Reinhard Pirker forscht und lehrt als Professor für Volkswirtschaftstheorie- und politik am Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie am Department Volkswirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien.

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science.ORF.at: In einem "Manifest gegen die Krise der Ökonomie" haben Wirtschaftsstudenten aus 19 Ländern eine Neuausrichtung ihres Fachs gefordert. Nicht nur die Wirtschaft stecke in der Krise, sondern auch "die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird", kritisieren die Autoren und Autorinnen des Aufrufs. Was ist denn die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird?

Reinhard Pirker: In der Wirtschaftswissenschaft hat sich eine bestimmte Denkweise durchgesetzt, die sich sehr stark an den Naturwissenschaften orientiert. Damit ist eine starke mathematische Formalisierung verbunden, die weniger auf substanzielle Inhalte - wie zum Beispiel Vermögens- oder Einkommensverteilung - achtet und sich mehr um eine mathematisch einwandfreie Darstellung bemüht.

Wie zum Beispiel?

Die Spieltheorie - ein Modell, das Entscheidungsverhalten im sozialen Kontext untersucht - ist hoch mathematisiert. Dabei kommt sie zu Ergebnissen, die zwar einwandfrei abgeleitet und mathematisch sehr beeindruckend sind, aber die Frage offen lässt, was das eigentlich mit Ökonomie zu tun hat.

Und wie sehen das andere Ökonomen?

Berühmte Vertreter wie Mark Blaug, Ronald Coase und sogar Milton Friedmann, die alle an diesen Entwicklungen beteiligt waren, haben im Alter gesagt: Es gibt so etwas wie eine Krankheit des Formalismus in den Wirtschaftswissenschaften. Schlagen Sie einmal ein ökonomisches Journal auf! Dort finden Sie in erster Linie mathematische Ableitungen, aber sie verstehen nicht mehr, was das mit Ökonomie zu tun hat.

Was sollte denn der Gegenstand der Ökonomie sein?

Tja, das ist eine lange Diskussion. Gary Becker zog den Schluss, dem man freilich nicht zustimmen muss, dass die Ökonomie keinen Gegenstand habe. Sie habe zwar eine Methode, um menschliches Verhalten zu untersuchen. Da sie aber keinen Gegenstand hat, könne sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewandt werden. Was Becker auch tut: von Liebesbeziehungen bis zur Kriminalität.

Sie forschen und lehren am Institut für Heterodoxe Ökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Die Unterscheidung zwischen heterodoxer und orthodoxer Ökonomie erinnert an die Kämpfe im Bereich der Religionen ...

Durchaus - es gibt einige Kritiker, die die Ökonomie tatsächlich als eine Form von Religion betrachten: Alleine in welcher Art und Weise manchmal über Märkte gesprochen wird ...
Ich möchte ihr das jedoch nicht vorwerfen: Manche Ökonomen wissen genau, was sie tun, und sagen auch, dass ihre Theorien und Modelle nicht sehr geeignet sind für wirtschaftspolitische Fragen. Sie sind sich über ihre Grenzen sehr wohl bewusst.

Wie könnte der Unterschied zwischen orthodoxem und heterodoxem Denken definiert werden?

Es geht dabei um zwei unterschiedliche Auffassungen, wie Ökonomie betrieben werden sollte, welche Methode sie folgt und welche Form von Wissenschaft sie ist. Tony Lawson - ein Cambridge Ökonom - hat gezeigt: Orthodoxes Denken - das auch oft "Neoklassik" genannt wird - orientiert sich mehr am erwähnten naturwissenschaftlichen Denkstil, an formalen Resultaten und mathematischen Ableitungen von Grundannahmen, die selbst höchst fraglich sind, sowie dem Menschenbild des Homo oeconomicus. Heterodoxes Denken untersucht hingegen die soziale Substanz und den Beziehungsaspekt. Sie orientiert sich mehr an der sozialen Realität, die im Bereich der Orthodoxie ins Hintertreffen gerät.

Und warum ist das so?

Das hat viel mit erkenntnistheoretischen Herausforderungen zu tun, die nicht so einfach zu überwinden sind. Bei den Naturwissenschaften habe ich meist einen Gegenstand, den ich mehr oder weniger gut untersuchen kann. Zum Beispiel ein bestimmtes Mineral in der Mineralogie.
Doch was ist die Substanz der sozialen Beziehung? Das ist viel schwerer zu definieren und zu untersuchen.

Diese Schwierigkeit ist es unter anderem, die in der Ökonomie dazu führt, die mechanistische Tradition beizubehalten und sie in gewisser Weise eben nicht als Sozialwissenschaft zu betreiben. Viele Ökonomen wissen gar nicht, dass sie sich im naturwissenschaftlichen Denkrahmen bewegen und diesen auf das Soziale und die Wirtschaft anwenden - sie beschäftigten sich nicht mit solchen Fragen.

Warum nicht?

Weil sie möglicherweise gefährlich würden für das, was man tut; ist es doch eine Infragestellung der aktuelle dominierenden Art und Weise Ökonomie zu betreiben. Es gibt auf jeden Fall so etwas wie eine Pfadabhängigkeit - auch in der Ökonomie als Wissenschaft.

Die Studierenden sehen in ihrem Aufruf die Wissenschaft in der Krise. Wie hängt diese Krise mit der aktuellen Wirtschaftskrise zusammen?

Schwer zu sagen, eines ist jedoch klar: Die Art und Weise, wie theoretisiert wird und Begriffe in der Ökonomie verwendet werden, hat einen Einfluss - auch auf die krisenhafte Entwicklung der letzten Jahre. Der Marktbegriff wurde in die Alltagssprache hineingetragen und in politischen Diskussionen verwendet. Die Idealisierung "des Marktes" und seiner "Perfektion" führte schließlich zu Privatisierungen und Deregulierungen - oft mit negativen gesellschaftlichen Auswirkungen. Es wird davon ausgegangen, dass Märkte das Effiziente und das Non plus ultra sind. Dabei kommt es zu Entwicklungen, wie sie unter dem Begriff des Neoliberalismus zusammengefasst werden können. Parolen wie "freie Märkte, freie Menschen" zeigen das auf - natürlich greift das viel zu kurz und ist sogar gefährlich.

In dem Manifest waren auch Studenten der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) beteiligt. Wie sieht dort die Lehre aus?

Ich bin seit 30 Jahren an der WU, und in dieser Zeit hat sie sich gewandelt, es gibt heute weniger Pluralität. In den 1980er Jahren wurden in der Lehre verschiedene Ansätze gleichberechtigt dargestellt. Die neue Professorengeneration orientiert sich jedoch am international herrschenden Mainstream. Die Lehre ist somit stark auf formale methodische Aspekte konzentriert, die Probleme der realen Wirtschaft und der Gesellschaft werden dabei aus dem Auge verloren. Seit den 1990er Jahren setzt sich dieser Trend fort.

Und das stört die jungen Studierenden?

Ja, das ist der Grund, warum sie aufschreien. Die Modelle der orthodoxen Ökonomie greifen bei einigen Problemen zu kurz und bieten keine befriedigenden Erklärungen für gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisen. Sie sind außerdem zu "ideal" und damit unrealistisch, wie zum Beispiel das Menschenbild des Homo oeconomicus. Solche Annahmen stehen jedoch im Zentrum des orthodoxen Denkens. Diese Problematik merken die Studenten und daher kam der Aufruf zu mehr Pluralität in der Lehre.

Aber das war nicht immer so?

Nein, früher hatte man an der Wirtschaftsuniversität konkrete österreichische wirtschaftspolitische Probleme diskutiert, theoretische Modelle standen nicht derart im Zentrum. Heute habe ich oft den Eindruck, dass vielen Studenten nicht einmal klar ist, was die Sozialpartnerschaft oder wer der Präsident der Wirtschaftskammer oder des Gewerkschaftsbundes ist; geschweige denn, dass sie über deren gesellschaftspolitische Aufgabe Bescheid wissen. Das ist tragisch. Das heterodoxe Institut, an dem ich forsche und lehre, ist ein Rest aus der "alten" Zeit.

Welchen Anteil hat das Institut am Lehrplan der Wirtschaftsuniversität?

Wenig. Vielleicht bis zu zehn Prozent im Masterstudium Volkswirtschaft.

Wie reagiert die orthodoxe Ökonomie auf die Einwände heterodoxer Denker?

Viele Ökonomen geben zu, dass ihre Modelle so nicht anwendbar sind - sie hätten jedoch nichts Besseres. Die "neue" Generation an Wissenschaftlern wurde nicht in anderen Denkweisen ausgebildet, wie wir sie hier am heterodoxen Institut lehren. Sie meinen auch, dass die Kritik ohnehin in der herrschenden Lehre integriert ist, was teilweise auch stimmt. Das Kernmodell der Ökonomie - die Behauptungen, dass wirtschaftliches Handeln rationalem Verhalten entspricht, dass Märkte zu stabilen Resultaten führen können und dass der methodische Ansatz dem naturwissenschaftlichen Denken folgt - das wird alles jedoch nicht aufgegeben.

Interview: Aaron Salzer, science.ORF.at

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