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1918: Soldaten im Ersten Weltkrieg

"Erster Weltkrieg war demografischer Schock"

Auch wenn Wien nicht Schauplatz von Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg war, bedeutete der Ausbruch des ersten globalen Krieges der Geschichte auch für die Bevölkerung der Residenzstadt tiefgreifende Veränderungen.

Wien 29.09.2014

Während die Geburtenbilanz dramatisch sank, kamen rund 200.000 Menschen als Flüchtlinge nach Wien. Ein "demografischer Schock", wie der Historiker Andreas Weigl erklärt.

Insgesamt verzeichnete die Residenzstadt im Laufe des Krieges eine deutlich negative Geburtenbilanz: "Es starben im Laufe des Krieges etwa 70.000 Menschen mehr als geboren wurden", so der Historiker, der seine Ergebnisse beim derzeit in Klagenfurt stattfindenden 10. Österreichischen Zeitgeschichtetag vorstellt.

Trotzdem hielten sich in Wien während des Ersten Weltkrieges mit Bevölkerungszahlen von bis zu 2,4 Millionen teils so viele Menschen wie noch nie auf. Das lag vor allem an den vielen Flüchtlingen, die in die vermeintlich sichere Hauptstadt strömten.

Kongress

10. Österreichischer Zeitgeschichtetag, 29. September bis 1. Oktober, Institut für Geschichte, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

ORF-Programmschwerpunkte

Hunger und Mangel an allem

Im Alltag bedeutete der Krieg für die Wiener Bevölkerung allerdings vor allem Hunger, Mangel und Versorgungsengpässe. Ab dem Frühjahr 1915 wurde ein Grundnahrungsmittel nach dem anderen rationiert. Oft stand die Bevölkerung stundenlang Schlange - ohne Garantie auf tatsächlichen Erfolg. "Nur ein geringer Prozentsatz, meist wohlhabende Wiener, konnte sich mit einem Großteil der Lebensmittel über den Schwarzmarkt versorgen", so Weigl.

Vor allem Kinder und Jugendliche waren unterernährt. Das bedeutete auch eine größere Anfälligkeit für Folgeerkrankungen. So starben etwa verhältnismäßig viele junge Frauen an Lungentuberkulose, berichtet Weigl. Zeitgenössische Schätzungen durch Ärzte gingen von zehn Prozent direkt oder indirekt durch Hunger verursachte Todesfälle aus. Im Herbst 1918 brach dann die Spanische Grippe über Wien herein - neben offiziellen rund 4.000 Toten in Wien rechnet Weigl noch etwa 6.000 Menschen hinzu, die an Folgen wie etwa Lungenentzündung starben.

"Insgesamt lässt sich für die Jahre nach Kriegsende ohne die Berücksichtigung von Gefallenen oder Kriegsgefangenen eine durchschnittlich um sechs Jahre kürzere Lebenserwartung feststellen", so der Historiker. Nur eine - eher überraschende - Altersgruppe überstand den Krieg weitgehend unbeschadet: Die Säuglingssterblichkeit stagnierte selbst am Höhepunkt der Kampfhandlungen. "Die Betreuungsrelation war günstiger", sagt Weigl.

Beginn der Mutterberatung

Mit Jänner 1915 etablierte die Stadt das System der Kriegspatenschaften. Vermögende Familien konnten Patenschaften für Neugeborene übernehmen, solange sich die Mütter verpflichteten, regelmäßige Untersuchungen wahrzunehmen.

"Das war der Beginn der Mutterberatungsstellen. Aus der Not heraus etablierte man sozialpolitische Maßnahmen, die Bestand hatten", so der Historiker. Ein weiteres Beispiel dafür ist das 1916 geschaffene Jugendamt, das sich der Jugendlichen der Stadt annehmen sollte.

In den Nachkriegsjahren sank die Zahl der Flüchtlinge und damit die Einwohnerzahl der Hauptstadt wieder dramatisch: Etwa 150.000 Menschen verließen Wien in Richtung der Nachfolgestaaten der Monarchie, vor allem in die Tschechoslowakei. Auch ein kurzes Aufflackern von "Nachziehgeburten", kurz nachdem ein Großteil der Soldaten heimgekehrt war, konnte diesen Verlust nicht ausgleichen.

"Die Geburtenbilanz blieb auch noch die gesamte Zwischenkriegszeit im Minus", erklärt Weigl. Das lag einerseits an der Weltwirtschaftskrise, andererseits an dem zunehmend moderneren Zugang zur Familienplanung.

science.ORF.at/APA

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