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Bildnis von Charles Le Brun: Mann mit Adlerprofil

Wir sind alle Hobby-Physiognomen

Ob Menschen als kompetent oder vertrauenswürdig gelten, hängt auch von ihrem Äußeren ab. Eine Studie zeigt: Wir verhalten uns so, als ob man den Charakter an den Gesichtszügen ablesen könnte - wider besseres Wissen.

Psychologie 22.10.2014

Für Ludwig XIV. war er der "größte französische Künstler aller Zeiten". Charles Le Brun, Maler am Hofe des Sonnenkönigs, war in der Tat ein prägender Künstler seiner Zeit. Seine historischen Ölgemälde und Prunkräume gelten als Klassiker des französischen Barock wie hierzulande die Kirchen von Fischer von Erlach.

Weniger bekannt ist, dass sich Le Brun auch als Anthropologe betätigte. Die Lehre von den Ausdrucksformen des Gesichts und der Schluss von denselben auf den Charakter des Menschen - die Physignomik - hatte es ihm angetan. Le Brun hat seiner Nachwelt Zeichnungen hinterlassen, auf denen Menschen mit Adlernase, Löwenmähne und Eselsmiene zu sehen sind. Übertreibungen zweifelsohne, aber lustige. Solche, die man auch heute noch der Kuriosität halber gerne sieht. Ansonsten wäre kaum zu erklären, dass Le Bruns Tiergesichter im Jahr 2014 durch die Sozialen Netzwerke zirkulieren.

Doch wer würde heute noch annehmen, dass der Wuchs von Nase oder Ohren etwas mit dem Seelenleben zu tun hat? Oder, wie Georg Christoph Lichtenberg einst spöttisch bemerkte, "von der äußeren Form des Kopfes, in welchem ein freies Wesen wohnt, muss man nicht reden wollen wie von einem Kürbis".

Von wegen aufgeklärt

Die Studie

"Social attributions from faces bias human choices", Trends in Cognitive Science (21.10.).

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtet auch "Wissen aktuell", 22.10., 13.55 Uhr.

Allein, so weit her sei es mit unserer aufgeklärten Haltung wieder nicht, sagt Christopher Olivola von der Carnegie Mellon University. "Wir glauben, unsere Urteile sind rational, stimmig, neutral und beruhen ausschließlich auf relevanten Informationen. Doch in Wirklichkeit ist das nicht so. Unsere Urteile werden oft von oberflächlichen und unwichtigen Faktoren verzerrt."

Computergenerierte Gesichter

Trends in Cognitive Sciences, Olivola et al.

"Gemorphte" Gesichter und Charakterzuschreibungen: A) Kompetenz, D) Vertrauenswürdigkeit; die Bilder rechts schneiden in Versuchen am besten ab

Olivola hat soeben das verfügbare Studienmaterial zu diesen "oberflächlichen Faktoren" zusammengefasst. Seine letzte Publikation ist eine Zusammenschau der psychologischen Gesichtsforschung - ihr Resümee fällt eindeutig aus: Wir schließen auch heute noch vom Äußeren eines Menschen auf seinen Charakter, schreibt Olivola im Fachblatt "Trends in Cognitive Science". In gewisser Hinsicht, könnte man sagen, verwenden wir immer noch Reste von Le Bruns "Theorie der Leidenschaften" - unbewusst zwar, aber wir tun es.

"Kompetenzgesichter"

Beispielsweise bei Wahlen: Wie Untersuchungen zeigen, sind Politiker mit "kompetenten" Gesichtszügen erfolgreicher als ihre Konkurrenten. Die äußerliche "Kompetenz" lässt sich zwar im Versuch bestimmen (siehe Bild), aber sie hat natürlich wenig mit der echten, fachlichen Kompetenz zu tun. Ähnliches gilt für Vertrauenswürdigkeit. Gesichter mit einer femininen Note und einer Grundierung, die an positive Emotionen denken lässt, schneiden bei entsprechenden Untersuchungen gut ab. Umkehrschluss: Wer mürrische Züge ererbt hat, wird es in dieser Hinsicht ein wenig schwerer haben, auch wenn er oder sie ein ganz vertrauenswürdiger Mensch ist.

Oliviola hat für diese systematische Verzerrung der Urteile einen Begriff parat: "face-ism". Er ist schwer ins Deutsche zu übertragen, es sei denn, man wollte sich mit "Faciesismus" zufriedengeben. Jedenfalls meint Oliviola damit eine "beunruhigende" Neigung zum äußerlichen Stereotyp, die es zu vermeiden gelte. "Die laienhafte Annahme, das Gesicht sei das Fenster zur Seele, hat überdauert", resümiert Olivola.

Warum, beantwortet er in seiner Arbeit nur indirekt. Denn natürlich kann man vom Gesicht eine ganze Menge ablesen: das Alter, das Geschlecht, die ethnische Herkunft, die Emotionen, unter Umständen auch den Lebenswandel. Im Gesicht zu lesen hat sich bewährt. So gesehen kein Wunder, dass wir diese Erwartungshaltung mitunter überstrapazieren.

Robert Czepel, science.ORF.at

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