Auch die Beobachtung, dass sich das Universum immer schneller ausdehnt, oder die Entdeckung von Hochtemperatur-Supraleitern haben es nicht in die Top 100 des "Nature"-Rankings geschafft.
Ein Umstand, der den Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich von der Uni Linz nicht überrascht. "Studien über Methoden und Übersichtsartikel werden immer häufiger zitiert als neue Erkenntnisse. Das ist eine Schulbuchweisheit", meint er gegenüber science.ORF.at.
Der Artikel:
"The top 100 papers. Nature explores the most-cited research of all time" ist am 29. 10. 2014 in "Nature" erschienen.
"Verwenden Naturwissenschaftler bestimmte Werkzeuge, Software oder Datengrundlagen, müssen sie die aus rechtlichen Gründen anführen. Originalstudien werden hingegen oft in Übersichtsarbeiten, den Reviews, zusammengefasst und nicht mehr gesondert zitiert. Die Zitationen erwirtschaften dann diese Übersichtsarbeiten, ein altbekanntes Phänomen."
58 Millionen Studien
Anlass für die Rangliste ist ein Jubiläum: Vor 50 Jahren hat Eugene Garfield, einer der Erfinder der Bibliometrie, den Science Citation Index (SCI) vorgestellt - den ersten systematischen Versuch, wissenschaftliche Zitate zu eruieren. Der Medienkonzern Thomson Reuters, dem der SCI mittlerweile gehört, hat für "Nature" eine Rangliste ab 1900 errechnet. Enthalten sind laut "Nature" nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch sozial- und geisteswissenschaftliche Journalaufsätze.
Insgesamt waren es über 58 Millionen seit 1900 erschienene Studien, die in die Wertung einflossen. Fast die Hälfte von ihnen - 23 Millionen - wurde überhaupt nie zitiert. 18 Millionen Studien wurden ein- bis neunmal, nur etwas mehr als eine Million öfter als 100 Mal von Kollegen oder Kolleginnen zitiert. Um die Top 100 zu erreichen, brauchte es schwindelerregende 12.000 Zitate.
Einsamer Spitzenreiter ist eine Arbeit aus dem Jahr 1951: Der US-Molekularbiologe Oliver Lowry hat darin eine Methode vorgestellt, mit der man winzige Mengen von Proteinen in einer Lösung messen konnte. Die Arbeit kommt bis heute auf über 300.000 Zitate - dieser Erfolg hat Lowry zu Lebzeiten selbst verwundert. "Obwohl ich weiß, dass das keine große Studie war, machen mir die Reaktionen insgeheim doch großen Spaß", schrieb er 1977.
Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lückenhaft
Generell wenig Spaß mit Ranglisten dieser Art hat der Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich. "Das Motto der Gegenwart ist: 'Unser tägliches Ranking gib’ uns heute.' Das einzig Gute daran ist, dass durch die Inflation an Rankings ihre Glaubwürdigkeit zunehmend verloren geht." Fröhlich kritisiert zum einen den Anspruch der "Nature"-Rangliste, die Wissenschaftszitate "of all time" oder auch nur seit 1900 abgebildet zu haben. "Das ist Unsinn."
Zwar habe Thomson Reuters vor einiger Zeit tatsächlich den Versuch unternommen, Daten zu Publikationen ab 1900 aufzunehmen. "Dabei wurden aber fast ausschließlich US-Zeitschriften erfasst. Und die waren äußerst lückenhaft, Hefte, ja ganze Jahrgänge haben gefehlt. Generell strotzen die Datenbanken von Thomson Reuters leider voller schwerer banaler Fehler – vielfach aufgrund mangelhafter Texterkennung beim Scannen (OCR-Fehler) und mangelhafter Textanalyse (Parsing-Fehler). Da kann dann ein Gerichtsurteil als Autor indexiert werden oder ein Textbrocken aus einer Fußnote als fiktiver Journaltitel", so Fröhlich. "Die Originalstudie, das Originaljournal verliert mit jedem Fehler eine Zitation."
"Wissenschaftlich sinnfreies Selbstmarketing"
Thomson Reuters sei sich dieser und anderer Schwächen ihres Zitatemessens mittlerweile bewusst, meint der Wissenschaftsforscher. Man sei sich im Klaren, dass es sowohl nationale als auch fachliche Kulturunterschiede gibt, die man bei Vergleichen berücksichtigen müsse.
"In der Mathematik wird viel weniger zitiert als in der Molekularbiologie. Deshalb ist das eine Paper aber nicht schlechter als das andere", sagt Fröhlich. Thomson Reuters wisse das und habe z.B. beim letzten THE-Uni-Ranking versucht, die verschiedenen Felder und Nationen unterschiedlich zu gewichten. "Professionelle Szientometriker tun das routinemäßig schon lange. So steigen dann auf einmal Universitäten aus Italien, der Türkei und Ägypten auf, und altbekannte etablierte ab."
Zeitschriften wie "Nature" würden mit derartigen Ranglisten hingegen "wissenschaftlich sinnfreies Selbstmarketing" betreiben. "Nehmen wir einmal an, die Zeitschrift veröffentlicht fünf Artikel mit Peer-Reviews, die 100 Mal zitiert werden; dazu fünf sensationsheischende journalistische Artikel, die 1.000 Zitate bringen. Thomson Reuters zählt die Zitate zusammen - macht also 1.100 - und dividiert sie nicht durch zehn, sondern nur durch die fünf wissenschaftlichen Artikel. Der Impact Faktor steigt dadurch deutlich."
Der Vorwurf des Wissenschaftsforschers: "Nature" verdient Teile seiner Zitationen - und damit seines Renommees - nicht durch die Wissenschaft, sondern durch "reißerische Artikel".
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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