In seinem gesamten Werk attackiert Maffesoli das Nützlichkeitsdenken und den Produktivitätswahn der klassischen kapitalistischen Ökonomie. Sie kenne nur – so lautet der Vorwurf – den Erhalt und die Ausweitung des vorhandenen Reichtums und einen gemäßigten, kontrollierten Verbrauch. Diesem "produktiven Verbrauch", der zur Erhaltung des Lebens notwendig ist, stellt Maffesoli den hemmungslosen Orgiasmus dionysischer Erfahrungen gegenüber.
Maffesoli gilt als Enfant terrible der französischen Soziologie. Sein Forschungsgebiet bezieht gesellschaftliche Randzonen mit ein, die von der universitären Soziologe sonst kaum betreten werden. Für ihn zählen konkrete Erfahrungen, die er bei Rave Parties, in Diskotheken oder bei Demonstrationen macht. Diese Intensitätserlebnisse sind für Maffesoli das "Erdbebenhafte der menschlichen Lustempfindung" wie es der Soziologe Edgar Morin ausdrückte.
Biographie
Michel Maffesoli wurde am 14. November 1944 als Sohn einer Bergarbeiterfamilie in den Cevennen geboren. Hier erlebte er noch das gemeinsame Feiern von Festen, das für seine theoretische Arbeit eine zentrale Bedeutung erlangte. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er Philosophie und Soziologie in Straßburg, wo er die Exponenten der Situationistischen Internationale kennenlernte.
Diese undogmatische anarchomarxistische Gruppe wurde von Guy Debord geleitet und übte einen großen theoretischen Einfluss auf die Protagonisten der Pariser Mairevolte von 1968 aus. Maffesoli nahm auch Kontakt mit Vertreter des deutschen SDS auf und befasste sich intensiv mit den Schriften der deutschen Rätekommunisten Rosa Luxemburg und Otto Rühle.
Nach seiner Promotion lehrte er
an der Université Pierre Mendes Frances in Grenoble. Danach kehrte er an die Universität Straßburg zurück und erhielt kurz darauf den renommierten Lehrstuhl für Soziologie an der Pariser Universität Sorbonne. Gleichzeitig leitete er das Centre sur l´Imaginaire am Maison des Sciences de l´Homme und gründete das Centre d´Etudes sur l´Actuel et le Quotidien in Paris.
Literatur
Michel Maffesoli: Die Zeit kehrt wieder; übersetzt von Reiner Keller, Matthes&Seitz Verlag
Michel Maffesoli: Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, übersetzt von Martin Weinmann, Sydikat Verlag (nur mehr antiquarisch erhältlich).
Reiner Keller: Michel Maffesoli. Eine Einführung, UVK Verlag
Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, VS Verlag für Sozialwissenschaften
Dynamische Lebensphilosophie
Das Alltagsleben nimmt bei Maffesoli einen zentralen Stellenwert ein. Er interessiert sich dabei für all jene gesellschaftlichen Phänomene, die nicht mit dem Rationalitätspostulat der normierten Gesellschaftsordnung vereinbar sind. Sein umfangreiches Werk geht den vielfältigen Formen des Vitalismus nach. Maffesoli plädiert für eine Lebensphilosophie, die sich an dem deutschen Soziologen Georg Simmel und dem französischen Philosophen Henri Bergson orientiert, die das Dynamische, das nicht Festlegbare der menschlichen Existenz betont haben.
Denn genau um das Leben geht es, widerspenstig und teilweise anomisch. Eine Vitalität, die den meisten Scholastikern entkommt und das ästhetische und tragische Grundgefühl der Existenz aufbauscht. Eine Vitalität des Handgreiflichen und Fühlbaren, die nach einer feinfühligen, empfänglichen Vernunft verlangt.
Als Spiritus Rektor von Maffesolis Werk kann der Weingott Dionysos angesehen werden - jener Gott des Rausches und der Transgression, in denen die normale, profane Alltagswelt exzessiv transformiert wird. In seinem Buch "Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus" verfasste Maffesoli eine Phänomenologie des orgiastischen Lebensgefühls, das üblicherweise von akademischen Soziologen ausgeklammert wird. Dabei bezog er sich auf Reflexionen von Friedrich Nietzsche über das dionysische Ja-Sagen zur Welt, das auch die "verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins" aufsucht.
"Subjekt auf dem Siedepunkt"
Eine wichtige Rolle spielte auch der französische Philosoph Georges Bataille, der eine Philosophie der Transgression, der Grenzüberschreitung konzipierte. Sein Ideal ist das sich im Rausch verausgabende Subjekt - "das Subjekt auf dem Siedepunkt", das den Zustand der Ekstase erlebt, der mit dem Verlust des "sozio-kulturellen Selbst" verbunden ist. Indem man in der Überschreitung die monotone, profane Welt des Alltagslebens verlässt, erschließt man sich neue Erlebniswelten, die Maffesoli metaphorisch als "die Welt des Orgiastischen" bezeichnet. Damit ist nicht nur die in der Sexualität erlebbare Ekstase gemeint, sondern jede Form einer hemmungslosen Verausgabung,
Die karnevaleske Sexualität, Weinfeste, Zechereien im Bierzelt, die studentischen Gelage oder Narrenfeste, Versammlungen mit religiösen oder halbreligiösem Charakter, all diese Phänomene sind von den ihnen eigenen Anzüglichkeiten begleitet und bieten eine Gelegenheit, funktionale Zuweisungen, Nützlichkeitsregeln und Produktionszwänge zu durchkreuzen.
Das Wirtshaus als Epiphanie des Dionysischen
Einen Schauplatz des Dionysischen ortet Maffesoli im Wirtshaus, wienerisch gesprochen, im Beisl. Die enthemmende Wirkung des Alkohols führt zu einer Egalität des sozialen Lebens. Das Göttergetränk des Dionysos, das häufig zu einem zunehmenden Verlust der Selbstkontrolle führt, lässt gesellschaftliche Barrieren verschwinden; "er löst die Zungen und verbindet die Körper". "Die Kneipe ist der Ort par excellence einer orgiastischen Sozialität schreibt Maffesoli, "ein Aufruf, eine Initiation, die die Integration vorbereitet".
Maffesoli nimmt keineswegs eine Verklärung des Dionysischen vor. Er verweist auch auf die bereits in der griechischen Mythologie thematisierten destruktiven Elemente hin. Maffesoli bezeichnet diese gewaltsame Seite des Dionysischen als "le part du diable", als "die Rolle des Teufels", die in zunehmendem Ausmaß die Gesellschaftsordnung bedroht.
Die dionysische Gewalt des "Teuflischen" ist unkalkulierbar; sie kann jederzeit ausbrechen. Ausschreitungen nach Demonstrationen, Revolten in europäischen Großstädten wie Paris und London, die mit Verwüstungen, Vandalismusakten und Brandstiftungen einhergehen, zählen ebenso dazu wie körperliche Attacken von Jugendlichen nach Diskothekbesuchen. Eine Chronik dieser Ereignisse ist an fast jedem Wochenende in den Medien nachzulesen.
Tribalismus und Ende der Moderne
Die ambivalenten Manifestationen des Dionysischen zeigen für Maffesoli das Ende der nüchtern-apollinischen Moderne an. Das bedeutet, die Einsicht, "dass der Individualismus seine Zeit gehabt hat", Ernst zu nehmen. In seinem jüngst in deutscher Sprache publizierten Buch "Die Zeit kehrt wieder" kommt er auf diese Thematik zu sprechen. Der Soziologe geht darin der Frage nach, "was die Atmosphäre der Epoche bezeichnet und was ihre Riten, kollektiven Glaubenssysteme und verschiedenen Verhaltensweisen sind". Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass nach dem Ende der statischen Moderne eine neue, dynamische Epoche angebrochen sei, die er als "Kultur des Nomadischen" bezeichnet.
Die postmoderne Gesellschaft entwirft Maffesoli als Ensemble von unterschiedlichen Netzwerken von Kleinstgruppen, die er als "Stämme" bezeichnet". Der Stamm ist eine Gruppe, die sich durch ein gemeinsames Grundgefühl auszeichnet, das sie verbindet. Dabei spielt die berufliche Situation des Einzelnen in der profanen Welt des Alltagslebens keine Rolle. So kann sich ein Büroangestellter durchaus als Feierabend-Hooligan an den Schlachten der diversen Fußballfans beteiligen. Wichtig ist das Erlebnis der Gemeinschaft, die Kristallisationen innerhalb der funktionalen Organisation der Gesellschaft bilden. Dabei gibt es kein vorgegebenes Ziel, das erreicht werden soll; was zählt ist das "Driften", das "Wandern ohne Ziel". Auch die Stämme weisen einen ambivalenten Charakter auf: sie entfalten ein gewisses anarchisches Potenzial, das aber wie bei dem dionysischen Exzess in Barbarei umschlagen kann. Dieser Aspekt wird von Maffesoli nicht beschönigt; er sieht darin das Signum des postmodernen Zeitalters, das es als solches zu akzeptieren gilt.
Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
Mehr zu diesem Thema: