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Mund eines Mädchens

Muttersprache: Einmal gelernt, nie vergessen

Die Muttersprache hinterlässt im Gehirn unlöschbare Spuren. Das konnten Forscher am Beispiel von in China geborenen Kindern belegen, die mit rund einem Jahr von Franzosen adoptiert wurden. Obwohl sie danach Chinesisch weder gehört noch gesprochen haben, reagiert das Gehirn selbst von 17-Jährigen noch immer auf die Sprache.

Neurologie 18.11.2014

Die Studie sei ein Beleg dafür, dass unser Gehirn manche Verbindungen für so wertvoll hält, dass sie nicht durch spätere Eindrücke "überschrieben" werden, interpretieren die Psychologin Lara Pierce von der McGill-Universität in Montreal und ihre Kollegen. Wie das Gehirn diese Entscheidung trifft, bleibt aber noch unklar.

Von Hänschen und Hans

Die Studie:

"Mapping the unconscious maintenance of a lost first language" ist am 17. November 2014 in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" erschienen.

"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" heißt es in dem alten Sprichwort, und es ist die Neurologie, die nun den bildlichen Beweis dafür liefert. Ein Teil der Aussage galt ja schon bisher als auch naturwissenschaftlich belegt: jener nämlich, dass das junge Gehirn besonders lernfreudig ist.

In besonderem Ausmaß trifft das auf Kinder in den ersten Monaten und wenigen Jahren nach der Geburt zu. Neurologen sprechen hier von einer "optimalen Periode", weil das Gehirn eine "hohe Plastizität" aufweist, wodurch Umwelteindrücke besonders effizient verarbeitet werden können.

Was passiert in anderer Umgebung?

Man wusste schon bisher, dass die Muttersprache sehr früh Spuren im Gehirn hinterlässt. Schon im ersten Lebensjahr lernen Kinder, ihren Klang von jenem anderer Sprachen zu unterscheiden - eine wichtige Basis, um dann Wörter und Strukturen lernen zu können. Umstritten war aber, was passiert, wenn Kinder genau zu diesem Zeitpunkt - mit gelegter Basis, aber fehlender Vertiefung - aus ihrer Umgebung genommen werden.

Während die einen behaupteten, dass die frühen Verknüpfungen durch spätere Eindrücke "überschrieben" werden, gingen die anderen davon aus, dass sie - wenn auch inaktiv - erhalten bleiben.

Gehirn reagiert auf Wörter

Lara Peirce und Kollegen unterstützen durch ihre Studie nun die zweite These. Für ihre Untersuchung luden sie drei Gruppen von Testpersonen ein, die zwischen neun und 17 Jahre alt waren. 21 Testpersonen waren als im Schnitt 12,6 Monate alte Kleinkinder adoptiert worden und sprachen ab diesem Zeitpunkt nur mehr Französisch. Eine etwas kleinere Gruppe wuchs bilingual Chinesisch-Französisch auf, und die dritte Gruppe bestand aus nur Französisch sprechenden Kindern bzw. Jugendlichen.

Die Forscher spielten allen drei Gruppen chinesische Wörter vor und zeichneten gleichzeitig per Magnetresonanztomografie (MRT) die Gehirnreaktionen auf. Es zeigte sich: Jene Kinder und Jugendlichen, die nie Kontakt mit Chinesisch hatten, zeigten erwartungsgemäß keinerlei Reaktion. Hingegen reagierte bei jenen Testpersonen, die nur als Kleinstkinder Chinesisch gehört hatten, das Gehirn sehr wohl.

Spezielle Region für Chinesisch

Dass es tatsächlich eine Reaktion speziell auf das Chinesische war, und nicht einfach ein durch Spracheindrücke hervorgerufenes Muster, meinen die Forscher durch die Region belegen zu können, die in der MRT aufleuchteten: Tonale Sprache wie eben das Chinesische werden - das wusste man schon aus früheren Studien - in anderen Bereichen der Gehirns verarbeitet als etwa das Französische.

Die Reaktion musste demnach daher kommen, dass das Gehirn die chinesischen Wörter wiedererkennen konnte.

"Basis bleibt bestehen"

Dieser Mechanismus könnte auch erklären, warum sich Menschen mit frühem Kontakt zu einer anderen Sprache beim "Auffrischen" derselben leichter tun als jene, die von Null beginnen. "Die Basis bleibt bestehen, auf ihr kann wieder aufgebaut werden", schreiben die kanadischen Neurologen und Psychologen. Ob diese Grundlage auch das Erlernen anderer Sprachen erleichtert, kann derzeit noch nicht gesagt werden.

Ebenso muss offen bleiben, warum das Gehirn diese sehr frühen Informationen speichert und erhält. Möglicherweise ist das Erlernen von Sprachen für unser Denkorgan so anstrengend, dass es im Sinn der Energieeffizienz einmal etablierte Strukturen über viele Jahre hinweg erhält, spekulieren die Forscher. Über genauere Antworten müssen sie aber selbst - im Rahmen einer weiteren Studie - scharf nachdenken.

Elke Ziegler, science.ORF.at

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