Kino sei zu einem bevorzugten Ort der Kunst geworden in einer Zeit, in der vielen Menschen nicht mehr klar sei, was Kunst eigentlich ist, meint der 74-jährige Franzose. Im science.ORF.at-Gespräch geht er auch auf persönliche Vorlieben ein und erklärt, wie Kameras mithelfen, die Wirklichkeit zu konstruieren.
science.ORF.at: Haben Sie einen Lieblingsfilm?
Jacques Rancière: Schwer zu sagen; ich mag keine Rankings und fühle mich nicht wohl dabei, wenn ich nach meinem Lieblingsfilm gefragt werden. Ein Regisseur jedoch, dessen Filme mich sehr bewegen, ist Kenji Mizoguchi. Wenn Sie mich fragen, welchen seiner Filme ich bevorzuge, dann wird es erneut sehr schwer für mich. Aber sagen wir "Sansho Dayu - Ein Leben ohne Freiheit".
Und warum dieser Film?
Rancière: Er thematisiert die Sklaverei und die Rebellion gegen ein unterdrückendes Regierungssystem. Mich fasziniert, dass er sowohl ein politischer Film als auch ein Kunstwerk ist. Er ist in seiner Identität beides.
1981 verfassten Sie das Werk "Die Nacht der Proletarier", in dem Sie sich mit ähnlichen Themen beschäftigten. Steht die Wahl dieses Films in einem Zusammenhang mit den sozialgeschichtlich-politischen Arbeiten zu Beginn Ihrer Karriere?
Rancière: Nicht unbedingt. Ich hätte auch einen anderen wählen können; ich habe viele Lieblingsfilme. "Sansho Dayu" habe ich in den 60er Jahren das erste Mal gesehen, zu einer Zeit, als ich ein junger, marxistischer Student war, der gleichzeitig gerne Hollywood-Filme sah (lacht). Meine Forschungen zur "Nacht der Proletarier" fanden in den 70er Jahren statt. Ich habe den Film nicht aus politischen Motiven gesehen, sondern einfach, weil mir die Art und Weise des Filmemachens von Mizoguchi sehr gut gefiel: einerseits die marxistische Studentenkultur und andererseits die Welt des Kinos, die er zusammenbrachte.
Person und Tagung
Jacques Rancière ist Professor für Philosophie an der European Graduate School in Saas-Fee. Von 1969 bis zu seiner Emeritierung 2000 lehrte er an der Universität Paris VIII (Saint-Denis).
Von 25. bis 29. November 2014 veranstaltete das Wiener Filmmuseum gemeinsam mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft (IFK) die Tagung "Das Unsichtbare Kino - Film, Kunst, Geschichte und das Museum".
Links:

Österreichisches Filmmuseum/Eszter Kondor
Ein Zitat von Ihnen lautet: "Das Kino ist der privilegierte Ort, an dem der modernistische Glaube, dass die Künste zu ihrer Vollendung fänden, wenn sie in der Reinheit ihre Autonomie erlangten, seinen Irrtum erkennen musste." Worin besteht dieser Irrtum?
Rancière: In der Moderne gab es die Vorstellung, dass sich das Kunstfeld in zwei Bereiche aufspaltet: in die Populär- oder Kommerzkultur und in die autonome, reine Kunst als solche, die sich mit sich selbst beschäftigt, wie das beispielsweise in der abstrakten Malerei der Fall ist. Die Kinokunst steht genau im Gegensatz zu diesem modernistischen Glauben.
Am Beginn gab es noch utopische Träumereien: Film und Kino sollten eine neue Kunstform werden, eine Kunst der bewegten, leuchtenden Bilder, die mittels Lichtprojektionen an Wänden tanzen. Dabei sollte es sich um eine autonome Kunst handeln, die keine Gegenstände abbildet und sozusagen sich mit ihrem eigenen Medium beschäftigt. Diese sollte die alte Erzählkunst und ihre Charaktere und Leidenschaften ablösen. Letztendlich startete das Kino seine Karriere jedoch doppelt: einerseits als Unterhaltungskultur für gewöhnliche Menschen und andererseits als eine Art künstlerisches Utopia.
Und heute?
Rancière: In einer bestimmten Art und Weise ist das Kino ein privilegierter Ort in einer Zeit geworden, wo für viele Menschen nicht mehr klar ist, was Kunst eigentlich ist. Es ist wie eine Umkehr der Sichtweise der 20er Jahre. Damals galt größtenteils die Meinung, Kino sei Unterhaltung für die dumme, breite Masse. Es gab die Vorstellung, dass Kunst nur in Museen und Galerien zu finden sei. Heute gehen viele Menschen in Museen und denken sich: Das ist keine Kunst! Wenn sie jedoch ins Kino gehen, dann ist es völlig klar: Das ist Kunst! So wurden das Kino und der Film zu einem Ort, an dem sich die Kunst inkarnierte.
Gilt das auch für den Dokumentarfilm?
Rancière: Der Dokumentarfilm hat sich verändert. In meiner Jugend wurde klar unterschieden zwischen Doku und Spielfilm. Mit der Zeit verringerte sich diese Trennung, und vielen Filmemachern wurde klar, dass eine Dokumentation ebenfalls wie eine Art Spielfilm ist, dass sie zumindest teilweise eine Art Fiktion ist. Fiktion bedeutet nicht nur Erfindung von Bildern und Geschichten, sondern auch Bilder und Wörter zu einer Geschichte zu verbinden sowie Dinge in ihrem Zustand zu kreieren und darzustellen, so wie sie sind. Der Essayfilm wäre ein Beispiel für eine solche Vermischung: Ein Essay ist keine Dokumentation, es ist eine intellektuelle Konstruktion, die darin mündet, dass manche Filme wie Dokumentationen aussehen, es aber nicht sind.
Wie zum Beispiel?
Rancière: Der Film "Jugend voran!" ("Colossal Youth") von Pedro Costa, einem portugiesischen Regisseur. Der Film handelt von einem Einwanderer, der in einem Vorort von Lissabon lebt. Costa kreiert Situationen, in denen die Immigranten ihr eigenes Leben darstellen. Sie spielen eine Art von Kondensat ihrer eigenen Geschichte erneut. Diese Art von Film bedeutet, Geschichten und Geschichte zusammenzuführen.
Fügt die Kamera der Wirklichkeit Dinge hinzu?
Rancière: Ich denke nicht; Realität existiert nicht an sich - die Kamera nimmt das auf, was vor ihr ist, dabei folgt sie einer Selektion, die vorgenommen wurde. Der Filmemacher entscheidet, was er sehen möchte und was nicht. Er muss viele Entscheidungen treffen: Welche Teile des Films werden verwendet? Was wird wie zusammengeschnitten? Wo und wie steht die Kamera? Fährt sie? Welche und wie viele Personen zeichnet sie auf? Wann und in welcher Reihenfolge sind Stimmen zu hören? Eigentlich ist es eine Frage von Schneiden und Einfügen. Auch wenn das nicht mehr im Stil der alten Schule gemacht wird, ist es doch immer noch: cut and paste (lacht).
Es wird also an der Wirklichkeit herumgeschnitten und geklebt?
Rancière: Sozusagen. Es gibt Tausende Möglichkeiten, aber der Wirklichkeit wird nichts hinzugefügt. Genau genommen wird die Wirklichkeit mittels Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division konstruiert.
Konstruieren wir dann nicht ständig, auch ohne Kamera?
Rancière: Selbstverständlich. Wir sind es, die entscheiden, dass wir vor jemandem stehen, mit jemandem reden; Wir entscheiden, was wir hören und wohin wir blicken, worauf wir unseren Fokus richten. Wahrnehmung ist immer Selektion.
Kann die Kamera als zusätzliches Auge betrachtet werden?
Rancière: Ja, aber das bedeutet nicht, dass sie Dinge sehen kann, die für das menschliche Auge unsichtbar bleiben. Das war ein großer Traum der frühen Filmemacher: eine Art von mechanisch-objektivem Auge, das durch Dinge hindurchgehen und eine Art von innerem Text der sensorischen Welt liefern kann. Das war bis zu einem gewissen Grad utopisch, aber es muss gesagt werden, dass die Kamera von selbst aus nicht selektiert, dazu braucht es den Menschen. Sie ist ein Teil der Wirklichkeitskonstruktion: Sie ist ein Zeuge, der nicht auswählt, was er bezeugt.
Das Gespräch führte Aaron Salzer, science.ORF.at