"Die TV-Serie war nicht der Beginn einer durchgehend selbstkritischen Erinnerung in Österreich, aber der Prozess in diese Richtung begann", sagt der deutsche Medienhistoriker Wulf Kansteiner von der Universität Aarhus. Eine internationale Tagung, die ab heute (Donnerstag) im ORF-Funkhaus stattfindet, geht der Bedeutung der TV-Serie nach.
science.ORF.at: Vom 1. bis 4. März 1979 wurden in Österreich die vier Teile von "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss" gesendet. Aus 35 Jahren Distanz: Wie wichtig war die TV-Serie?

VWI
Wulf Kansteiner ist Associate Professor of Memory Studies and Historical Theory an der Universität Aarhus sowie Associate Professor of European History an der Binghamton University.
Tagung:
Vom 3. bis 6. Dezember 2014 findet in Wien die Simon Wiesenthal Conference "Völkermord zur Primetime. Der Holocaust im Fernsehen" statt, veranstaltet vom Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI).
Links:
- Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss
- "Holocaust" auf YouTube, Teil 1
- Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien
- Studie: "Holocaust" und die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses
- "Unsere Mütter, unsere Väter", Wikipedia
- "Shoah" auf YouTube
Ö1 Sendungshinweis:
Über das Thema berichten auch die Ö1 Journale, 4.12., 12:00 Uhr.
Wulf Kansteiner: Sie hat die Erinnerung an den Holocaust sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international völlig verändert. Vieles, was wir heute für selbstverständlich nehmen - eine dichte Erinnerungslandschaft, eine Geschichts- und Kulturwissenschaft, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt -, hat sich erst danach entwickelt. Zu betonen ist, dass die Serie in verschiedenen Ländern höchst unterschiedlich diskutiert wurde. In Deutschland hat sie dazu geführt, dass breite Teile der Bevölkerung eine selbstkritische Haltung gegenüber den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg entwickelt haben. Das war ein Wendepunkt, wie viele Quellen zeigen, etwa die massenhaften Zuschriften an die Fernsehanstalten nach der Ausstrahlung. Normalerweise melden sich nach Geschichtssendungen 100 oder 200 Zuschauer. In diesem Fall waren es Zehntausende.
Wie war das in Österreich?
Anders. Hier ist durch "Holocaust" zum ersten Mal die Frage unausweichlich geworden, in welcher Hinsicht die Nazi-Verbrechen auch österreichische sind. Diese Unausweichlichkeit hat ein Jahrzehnt später zur Waldheim-Affäre geführt und letztlich die Opferthese - wonach Österreich das erste NS-Opfer war - aufgebrochen. Die TV-Serie war nicht der Beginn einer durchgehend selbstkritischen Erinnerung in Österreich, aber der Prozess in diese Richtung begann.
Die Serie hat dem Massenmord auch seinen Namen gegeben …?
Ja, und das war ein ganz wichtiger Schritt in der Erinnerung. Zuvor hatte man oft die Begriffe der Nazis benutzt: "Endlösung", manchmal mit Anführungszeichen, manchmal nicht; ganz wichtig als Chiffre war "Auschwitz". Und dann andere Worte mit wenig Präzision wie "Kriegsverbrechen" oder mit einem eher juristischen Profil wie "Genozid". Der Begriff "Holocaust" war zwar unter Experten bekannt, er ist einige Jahre zuvor auch in Lexika aufgetaucht. Er war aber nicht Teil der Alltagssprache. Das ist er erst durch die TV-Serie geworden.
Wie haben die Bevölkerung bzw. die Medien auf die Ausstrahlung der TV-Serie in Österreich reagiert?
Es ist nicht ganz leicht, langfristige Folgen zu benennen. Sicher ist, dass klar rechtsradikales Gedankengut - zum Beispiel die Leugnung des Holocaust - in den Jahren nach der TV-Ausstrahlung deutlich abgenommen hat, von damals 15 Prozent zu den heutigen nur noch rund sieben Prozent. Die TV-Serie ist dafür natürlich nicht der einzige Faktor, steht aber am Anfang dieser Entwicklung.
Interessant finde ich, dass der ORF, der "Holocaust" zwei Monate nach der ARD ausstrahlte, auf das Medienereignis besser vorbereitet war als das deutsche Fernsehen. Es hat in beiden Ländern 1979 begleitende Dokumentationen und Diskussionssendungen gegeben. Aber in Deutschland waren die Telefonleitungen überlastet, während es in Österreich ausreichend Möglichkeit für Publikumsreaktionen gab, woraus sich auch die große Zahl an Anrufen erklärt - ich glaube, es waren 30.000. Die Aussagen waren natürlich sehr unterschiedlich, es gab alles von Zustimmung bis Antisemitismus. Auch die Reaktion in der Presse war nicht homogen. In den rechten bürgerlichen Zeitungen etwa wurden die Opfer aufgerechnet, österreichische und deutsche Opfer in den Vordergrund gestellt, um die Verbrechen der Nazis zu relativieren.
Ein Argument in der Tageszeitung "Die Presse" war zum Beispiel, dass die Serie nur aus kommerziellen Gründen gemacht wurde, außerdem eine Art Seifenoper war. Ist da etwas dran? Darf man den Holocaust dramatisieren?
Man muss sogar. Wenn man eine erfolgreiche, selbstreflexive Erinnerungspolitik betreiben will, muss man das immer im Medium der Gegenwart machen. Das Leitmedium der europäischen Gesellschaft in den 70er und 80er Jahren war nun einmal das Fernsehen, und das populärste Format waren fiktive Geschichten. Insofern hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine Pflicht, Geschichtsinformation, -aufklärung und auch -unterhaltung in der besten zur Verfügung stehenden Form zu vermitteln. Und auch im populärsten Format. Da bin ich als Medienhistoriker kompromisslos. (lacht)
Spricht das gegen Formate wie "Shoah", die zehnstündige Dokumentation von Claude Lanzmann aus dem Jahr 1985?
"Shoah" ist ein gewaltiges Denkmal der Filmgeschichte, aber nur für Intellektuelle ein Erinnerungsereignis. Außerdem ruft der Film erhebliche ethische Bedenken hervor - wenn man sich etwa ansieht, wie Lanzmann mit den Überlebenden umgegangen ist, wie er sie dazu gebracht hat, ihr Leiden vor der Kamera nachzuspielen … Das sind höchst problematische Vorgänge, die heute niemand mehr gutheißen würde, weil dabei immer die Gefahr besteht, Traumatisierte neu zu traumatisieren.

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Gibt es etwas, das Sie an "Holocaust" kritisieren?
Die Serie hat dazu geführt, dass vielen Menschen in weiten Teilen der Welt die NS-Verbrechen mehr bewusst waren als vorher. Die Überlebenden haben endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen zusteht. Die Fokussierung auf die Opfer, die nach "Holocaust" einsetzte, hat aber gleichzeitig dazu geführt, dass die Täter immer noch nicht im Zentrum des Interesses standen. So hat die zweifelsfrei wichtige Anerkennung der Leiden der Opfer die selbstkritische Auseinandersetzung mit den Tätern verdeckt. Die Medien sind uns bis heute dieses wichtiges Stück Selbstkritik schuldig geblieben.
Sehen Sie Beispiele von TV-Produktionen, die das zumindest versucht haben?
Um eine ganz neue Produktion zu nennen: Der Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter", der im März 2013 ausgestrahlt wurde und meiner Ansicht nach ganz bewusst als nachträgliche Antwort auf "Holocaust" konzipiert wurde. Es ist die Geschichte einer Gruppe junger Freunde, die zwar im Nationalsozialismus sozialisiert wurden, aber dennoch kaum Zeichen für eine deutliche NS-Gesinnung zeigen. Auch diese Sendung hat es nicht geschafft, diese unheimliche Popularität einzufangen, nicht nur der Sozialprogramme der Nazis, sondern auch des Rassismus, bis hin zur Popularität der Vernichtungspolitik im besetzten Europa. Diese Popularität lässt sich nur schwer darstellen, und davor schrecken viele Kulturschaffende bis heute zurück.
Aus pädagogischen Gründen, weil sie sozusagen keine NS-Propaganda zeigen wollen?
Ja. Es ist einfacher, Dinge zu kritisieren, als sich zu fragen: Was würde man selber anders machen? Ich glaube, es wäre mutig, Produkte zu schaffen, die noch stärker herausstellen, wie normal diese Menschen waren. Dazu müsste man - zumindest anfangs - die Identifikation mit den Tätern zulassen, um sie dann zu brechen. Das ist natürlich ein Risiko und es bedarf eines Medienkontextes, der nicht so sehr auf eine homogene Erinnerung zugeschnitten ist, wie es das öffentlich-rechtliche Fernsehen nun mal der Fall ist. Der französische Schriftsteller Jonathan Littell hat das in seinem sehr umstrittenen Roman "Die Wohlgesinnten" getan. Er rekonstruiert die Sicht der Täter in ihrer erschreckenden Radikalität und Banalität rücksichtslos und bis in die letzte Konsequenz. Ich fände es gut, wenn das auch in sehr populären Medienformaten geschehen würde.
Für viele junge Menschen sind das nicht mehr Bücher oder Fernsehen, sondern Internet oder Videospiele. Wie könnte eine zeitgemäße Erinnerung an die NS-Verbrechen da aussehen?
Die heutigen Videospiele sind erstaunlich fantasielos. Es gibt entweder Zweiter-Weltkriegs-Spiele, die in sehr engen Bahnen verlaufen, oder didaktische Spiele, die oft ästhetisch unattraktiv sind. Für eine Geschichtserziehung und -unterhaltung sind Videospiele noch lange nicht ausgeschöpft. Wichtig wäre es, ein wirklich ästhetisch ehrgeiziges und entsprechend teures Spiel zu schaffen, das die Welt des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen anspruchsvoll rekonstruiert und gleichzeitig eine sehr ehrgeizige didaktische Aufgabe erfüllt - nämlich die Identifikation mit den Tätern zu ermöglichen und diese zu brechen. Das gibt es leider noch nicht, aber ich hoffe, das ändert sich.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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