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Kreuze auf einem Soldatenfriedhof, die an den Ersten Weltkrieg erinnern

Trennungsstrich statt Schlussstrich

2014 ist ein mehrfaches Gedenkjahr gewesen: Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Zweite. Eine gemeinsame europäische Erinnerung daran gibt es nicht, wie sich auch anlässlich der aktuellen Ukrainekrise zeigt. Die deutsche "Erinnerungsexpertin" Aleida Assmann hätte ein Gegenmittel: unter die Geschichte nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern einen Trennungsstrich.

Gedenkjahr 2014 22.12.2014

Während der Schlussstrich Schweigen über die Vergangenheit bedeuten würde, müsse man bei einem Trennungsstrich über das, wovon man sich trennen möchte, reden. Ansonsten würden sich unterschwellige Haltungen verlängern, so Aleida Assmann in einem Interview.

science.ORF.at: Wie unterscheiden sich die jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen heute in Europa?

Zur Person:

Aleida Assmann ist seit 1993 Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz. Gastprofessuren an der Universität Rice, Princeton, Yale und Wien.

Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assman hält ein Buch

Universität Konstanz

Veranstaltung:

Aleida Assmann hielt im Rahmen der Veranstaltung "Europäische Erinnerungskonflikte" an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 15/16. Dezember 2014 einen Vortrag mit dem Titel: "Europe’s divided Memory and its Extension
in the Commemoration Year 1914/2014".

ORF-Programmschwerpunkte:

Aleida Assmann: Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges 1989 änderten sich die Erinnerungen der verschiedenen Nationen an den Holocaust, da die östlichen Archive für die Historiker wieder zugänglich wurden. Bis dahin hielt ein Zustand an, den Tony Judt als den Nachkriegsmythos Europas bezeichnete. Dieser bestand darin, dass die eindeutige und berechtigte Schuldzuweisung in Richtung Deutschland dazu geführt hat, dass sich alle anderen Nationen einschließlich Österreich entlastet fühlen konnten. Das Thema Kollaboration kam erst nach 1989 in den 90er Jahren auf. Damit erlebten wir in Westeuropa einen Wandel von heroischen Widerstandsnarrativen zu selbstkritischen nationalen Selbstbildern. Bis dahin gab es kein Interesse, die Geschichte aufzuarbeiten.

Warum nicht?

Nach 1945 galt die Devise: "Wir wollen ein neues Europa aufbauen und müssen deshalb in die Zukunft schauen." Erinnern hatte damals keinen guten Ruf, denn es bedeutete, den Hass und die Ressentiments wiederzubeleben, die Europa zerrissen hatten. Man wollte gegenseitige Abrechnungen verhindern, die die Gesellschaft spalten. Das "Zeitregime der Moderne", wie ich das beschrieben habe, ging davon aus, dass alles Gute von der Zukunft her kommt. Das bedeutete, dass man die Vergangenheit hinter sich lassen müsse - in der Erwartung, sie würde sich von selbst erledigen. Intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit, so die damalige Meinung, bringe nur Streit und lähme die Energie, die man für die Zukunft benötigt.

Mit dem Ende des Kalten Krieges änderte sich das. Bereits in den 80er Jahren begann dieses "Zeitregime" zu bröckeln, als deutlich wurde, dass die Zukunft die Versprechen der Modernisierung nicht halten konnte. Wir konnten erleben, wie umgekehrt traumatische Vergangenheiten zurückkehrten, die noch Forderungen an die Gegenwart machten. Trauma ist ja ein neuer Begriff, der erst 1980 ins Handbuch der Amerikanischen Psychiatrie eingetragen wurde; er bezeichnet eine "Vergangenheit, die nicht vergeht".

Mit der Öffnung der Archive nach 1989 gab es neue Informationen, die das Selbstbild der westlichen Nationen und ihre Narrative veränderte. Österreich ist da ein gutes Beispiel: Es erkannte, dass es nicht nur erstes Opfer, sondern auch Täter war. Ebenso die Schweiz, die mit Blick auf ihre Grenze und ihre Banken eben nicht nur ein neutraler Staat war. Auch Frankreich stellte sein bisheriges Narrativ des Widerstandslandes in Frage und untersuchte das Vichy-Regime. Somit entdeckten die verschiedenen europäischen Nationen ihre Nazi-Kollaborationen.

Sie sagten, eine "Vergangenheit, die nicht vergeht." Wie hat sich der Umgang mit dieser Vergangenheit verändert?

Früher sagte man: "Jetzt lasst doch endlich die alten Geschichten ruhen, wir müssen uns davon befreien: Jetzt ist Schluss, wir wollen davon nichts mehr hören." Das war die Idee des Schlussstrichs, die die erste Generation nach dem Krieg kennzeichnete. Bei meinen Auseinandersetzungen mit diesen Themen habe ich einen anderen Begriff gefunden, der die Haltung der darauffolgenden Generation kennzeichnet: der Trennungsstrich. Er ist genau das Gegenteil vom Schlussstrich, bei dem die Menschen nicht mehr über die Vergangenheit reden wollen.

Der Trennungsstrich bedeutet, dass man über das, wovon man sich trennen möchte, reden muss. Nur über eine öffentliche Debatte und Auseinandersetzung kann Distanz gewonnen und eine Vergangenheit abgeschlossen werden, denn wer schweigt, verlängert unterschwellige Haltungen. Man muss seine Geschichte überhaupt einmal kennenlernen und sie aufarbeiten, um sich von ihr distanzieren zu können. Solange wir das nicht tun, bleiben wir in eine Komplizenschaft des Schweigens eingebunden. Die 68er Generation hat diese Themen dann neu aufgegriffen.

Um zu einem aktuellen Beispiel zu kommen: Kann die Ukrainekrise als ein Konflikt einer fehlenden Aufarbeitung der Geschichte betrachtet werden?

Ich denke schon. Viele heutige politische Konflikte kann man als Verlängerung eines historischen Konfliktes und einer mangelnden Aufarbeitung betrachten. Wenn kein Trennungsstrich gezogen wurde, werden die Konflikte subkutan weiter getragen. In der Ukraine wäre ein Beispiel die Nazi-Kollaborationen oder der Holodomor, als große Bevölkerungsteile aufgrund einer fehlgeleiteten Nahrungspolitik seitens Stalin verhungerten. Diese Katastrophe zählt auch zu den ganz schweren Menschheitsverbrechen und Traumata, die sich nicht einfach auflösen lassen. Vor allem aber stabilisieren sie sich, wenn die andere Seite es vergisst: Je stärker die eine Seite vergisst, desto stärker erinnert die andere. Ein Land jedoch, das mit einer einseitigen Erinnerung lebt, kann über diese nicht hinwegkommen.

Welche Möglichkeiten gibt es, derartige Konflikte aufzuarbeiten?

Ich habe den Begriff der dialogischen Erinnerung verwendet: Wenn ein Land für die Verbrechen in einem anderen Land verantwortlich ist, dann erinnert meist das Land in der Opferrolle sich ganz intensiv an die Taten, wohingegen das Täterland die Ereignisse völlig vergisst.

Im Rahmen einer dialogischen Erinnerung kommt es zu einem kommunikativen Austausch und einer gegenseitigen Anerkennung des Traumas der anderen Nation. Dadurch kommt es zu einem Abbau der Asymmetrie der Erinnerung an die gemeinsame Gewaltgeschichte. Damit kann dann eine neue Beziehungsgeschichte beginnen vor dem Hintergrund, dass man die eigenen Verbrechen dem anderen gegenüber anerkennt.

Joachim Gauck - der deutsche Präsident - macht seit zirka zwei Jahren genau das. Er besucht andere Länder, die eine schlimme Erinnerung an die Deutschen haben und die sich einseitig in der Opferrolle befinden. Er sagt: "Wir steigen in eure Erinnerung ein und vergessen die Ereignisse nicht, da sie ein Teil unserer gemeinsamen Erinnerung sind." Das ist weniger eine Versöhnung als eine Form der Anerkennung der Geschichte durch jene, die dafür verantwortlich sind. Auf dieser Grundlage kann sich eine neue Beziehung entwickeln; bevor das nicht besprochen und anerkannt wird, kann nur eine Nicht-Beziehung entstehen und die Konflikte verlängern sich.

Wie steht es um die deutsch-russische Beziehung?

Diese haben die Deutschen noch gar nicht im Griff. Hier gibt es noch eine zentrale asymmetrische Erinnerung, und das ist die Leningrader Blockade, bei der die Bewohner Leningrads systematisch von den Deutschen ausgehungert wurden. Es starben an die eine Million Zivilisten. Dieses Ereignis hat in Russland ikonischen Charakter. Obwohl im Bundestag am 27.1. 2014 ein Überlebender in einer Gedenkstunde darüber gesprochen hat, weiß man in Deutschland wenig davon. Hier könnte man innereuropäische Beziehungen herstellen: Erinnerungsbeziehungen, die durch eine dialogische Erinnerung über diese Grenzen hinweg viele Gräben ein Stück weit zuschaufeln könnten.

Nun befinden wir uns am Ende des Gedenkjahres 2014. Viele meinten zu Beginn, dass Gedenkjahre eine völlig künstliche Geschichte seien: Warum sollen wir uns 100 Jahre nach dem Ereignis daran erinnern? Haben wir nicht andere Sorgen im Moment? Frau Assmann, wie sehen Sie das?

Ich denke, dass die Europäische Union ein Gebilde ist, das davon lebt, dass es sich selbst thematisiert. Einerseits ist es sehr wichtig, dass sie funktioniert und ihre wirtschaftlichen Probleme löst - das ist das Tagesgeschäft sozusagen, auf das reagiert werden muss. Auf der anderen Seite bedarf es jedoch Debatten, um auch kulturell zusammen zu wachsen.

Der Erste Weltkrieg, der in den in den Nachbarländern Großer Krieg genannt wird, bietet dazu eine Möglichkeit. Jene Länder, die sich bisher wenig damit auseinandergesetzt haben, haben die Chance, etwas über ihre Nachbarländer zu erfahren: Wie haben diese den Krieg erlebt? Wie war deren Geschichte? Dabei können Gemeinsamkeiten entdeckt werden, und es entsteht die Möglichkeit einer gemeinsamen multiplen Geschichte, die zu einer gesamteuropäischen Erinnerung verschmilzt.

Diese Geschichte mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 beginnen zu lassen, war sehr künstlich. Das inzwischen gewachsene und nicht mehr nur zwei Staaten umfassende Europa hat eine längere Geschichte, zu der neben dem Holocaust auch der Erste Weltkrieg mit seinem unglaublichen Verschleiß an Menschenleben gehört. Da es auch die damaligen Kolonien umfasste, war es ein globaler Krieg. Insofern hat Europa mit der Zerstörung ganz groß angefangen, bevor es mit dem Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal ganz klein anfing.

Was kommt nach diesem Gedenkjahr?

Der Erste Weltkrieg wird uns nun vier Jahre lang begleiten. Dem ersten Jahr (2014) werden noch weitere Daten folgen, wie der Armenische Genozid kommendes Jahr. So wie der Holocaust ein Menschheitsverbrechen im Schatten des Zweiten Weltkrieges war, so wurde der Armenische Genozid im Schatten des Ersten Weltkrieges verbrochen.

Europa hat im Moment sehr viele Probleme: Einerseits die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, andererseits den Rechtsruck in vielen europäischen Ländern. Der Druck, der durch diese zentrifugalen Kräfte auf Europa liegt, ist bedrohlich. Er ist aber auch eine Folge von zu wenig Kommunikation und Austausch. Die Selbstthematisierung Europas ist da eine Möglichkeit voneinander zu lernen.

Wenn bei dieser Selbstthematisierung Europas gemeinsame Werte besprochen werden, welche wären das?

Ich denke, dass die Menschenrechtspolitik eine klare Antwort auf die Krise Europas zu Beginn des 20. Jahrhundert ist. Wir haben ein anderes Verantwortungsgefühl als die Amerikaner. Einerseits im Bezug auf geschichtliche Ereignisse: Die Amerikaner sortieren jene Ereignisse in der Geschichte aus, die ihnen nicht passen. Andererseits im Bezug auf wirtschaftliche Formen. Natürlich sind Investitionen und die Ankurbelung der Wirtschaft wichtig, aber in Europa gibt es auch ein Gefühl für Sozialleistungen. In Amerika solle jeder schauen, wie er alleine zurechtkommt; wenn es einem schlecht gehe, so sei man selbst schuld: Dieses stark individualistische Denken ist in Europa nicht zuhause.

Aaron Salzer, science.ORF.at

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