Ob "moralisch", "ehrlich" oder "vertrauenswürdig" - in jeder Hinsicht sahen sich 85 verurteilte Straftäter in einem Gefängnis in Südengland nicht nur Mitinhaftierten, sondern auch dem durchschnittlichen Mitglied der Gesellschaft gegenüber überlegen. Für die Resozialisierung wirft dieses Ergebnis freilich Fragen auf.
Auch Studierende kennen den BTAE
Die Studie:
"Behind bars but above the bar: Prisoners consider themselves more prosocial than non-prisoners" ist im März 2014 im "British Journal of Social Psychology" erschienen.
Platz 1 auf BPS-Blog:
Mit ihrer Untersuchung landeten die britischen Psychologen um Constantine Sedikides von der Universität Southhampton auf Platz 1 der populärsten Postings 2014 am Blog der British Psychological Society.
"Better than average effect" heißt das Phänomen in der englischen Fachliteratur, und es wurde bereits in vielen Studien beobachtet und beispielsweise auch anhand von Studierenden beschrieben: Besonders jene angehenden Akademikerinnen und Akademiker, die bei bisherigen Tests weit unterdurchschnittlich abgeschnitten haben, überschätzen ihr Leistungsvermögen.
Zwei Mechanismen könnten dahinter stecken: Entweder fehlt ihnen die Fähigkeit, sich selbst zu analysieren, oder sie stecken all ihre Energie in die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes.
"Moralisch" und "nett zu anderen"
Constantine Sedikides und sein Team wollten überprüfen, ob dieser Effekt selbst dann noch wirksam ist, wenn die objektiven Umstände eine andere Sprache sprechen. Die Psychologen gingen in ein Gefängnis und baten 85 Insassen, die zum großen Teil Gewaltdelikte, Raub, Drogendelikte oder Diebstahl auf dem Kerbholz hatten, um ihre Selbsteinschätzung.
Hinsichtlich der Eigenschaften "moralisch", "nett zu anderen", "vertrauenswürdig", "ehrlich", "zuverlässig", "mitfühlend", "großzügig", "gesetzestreu" und "hohe Selbstkontrolle" sollten sie sich sowohl mit dem durchschnittlichen Mitgefangenen, als auch mit dem Durchschnittbürger vergleichen.
Einziger Mangel: Gesetzestreue
Die Ergebnisse waren bei beiden Fragen sehr eindeutig: Im Vergleich zu ihren Haftkolleginnen und -kollegen (zur Geschlechterverteilung machen die Forscher keine Angaben) sahen sich die Befragten in jeder Hinsicht überlegen - besonders hoben sie die Ehrlichkeit und die Gesetzestreue hervor, von der die anderen Straftäter noch viel weniger besitzen würden als sie selbst.
Auch im Vergleich zum nicht-kriminellen Durchschnittsbürger ordneten sich die inhaftierten Straftäter als moralischer, netter, vertrauenswürdiger etc. ein - allerdings mit einer Ausnahme: Hinsichtlich der Gesetzestreue sehen sie sich ihren Mitbürgern nicht überlegen sondern auf dem gleichen Niveau.
Von Einsicht und Besserung
Die Forscher sehen in ihrer Studie den Beleg, dass der "Besser-als-der-Durchschnitt"-Effekt auch unter das Gegenteil belegenden, äußeren Umständen durchschlägt. Sie fragen sich allerdings auch, was dieses Ergebnis für die Resozialisierung bedeutet. Denn wenn Menschen jegliche Einsicht in die eigenen Schwächen und Fehler fehlt, sei fraglich, ob nach der Haftende ein anderer Weg beschritten wird.
Die Rückfallsraten, die immer höher sind als die Angaben, die Straftäter vor ihrer Enthaftung zur Wahrscheinlichkeit eines neuerlichen kriminellen Aktes machen, scheinen diese verschobene Selbsteinschätzung zu bestätigen. "Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung", heißt es in einem alten Sprichwort. Straftätern bei der Einsicht zu helfen, sollte deshalb unbedingt Teil der Vorbereitung auf die Entlassung sein, so die Studie.
Elke Ziegler, science.ORF.at
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