Auf der Überholspur
Die Studie in "Science":
"Expectations of brilliance underlie gender distributions across academic disciplines" von Sarah-Jane Leslie et al., erschienen am 16. Jänner 2015.
Insgesamt bewegen sich Frauen bei der akademischen Ausbildung auf der Überholspur. In Österreich haben sie ihre männlichen Kollegen bei den Studienabschlüssen mittlerweile tatsächlich überholt, wie die jüngsten Studienabschlussquoten belegen. Dennoch sind sie in einigen Fächern immer noch extrem unterrepräsentiert, z.B. in den sogenannten MINT-Fächern - also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Die Ursachen des hartnäckigen Ungleichgewichts sind umstritten, ihre Klärung geprägt von weltanschaulichen Debatten. Als ziemlich sicher gilt, dass soziale und kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Es werden aber immer wieder auch Stimmen laut, die den wahren Grund in der unterschiedlichen Begabung von Männern und Frauen sehen.
Einer der einflussreichsten Thesen in diesem Kontext stammt bereits aus dem 19. Jahrhundert und wurde unter dem Titel "greater male variability" bekannt. Sie besagt, dass der Mann an sich sowie sein Intellekt variabler sind. Das heißt, das Spektrum der Intelligenzen ist breiter als bei Frauen und zwar in jede Richtung, vereinfacht ausgedrückt: auf der einen Seite der Idiot, auf der anderen das Genie. Ausreichend belegt wurde diese These niemals, Gegenbelege gibt es sehr wohl. Erst vor wenigen Jahren haben Forscher anhand eines Vergleichs mathematischer Leistungen von Mädchen und Buben gezeigt, dass die Geschlechterverteilung sogar in diesem Fach recht unterschiedlich ausfallen kann - je nachdem, in welcher Kultur die Heranwachsenden lebten.
Genies gesucht
Dennoch dürfte die Vorstellung von der männlichen Ausnahmebegabung im akademischen Leben noch immer wirksam sein, wie die neue Studie der Forscherinnen um Sarah-Jane Leslie von der Princeton University nahelegt.
Die Ausgangshypothese des Teams: Frauen sind überall dort spärlich vertreten, wo ein besonderes Naturtalent und Genialität als unabdingbar gelten. Denn - so ihre Beobachtung bei Absolventinnen und Absolventen US-amerikanischer Universitäten - Frauen sind nicht nur in vielen MINT-Fächern dünn gesät, sondern auch in manchen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. Philosophie - ein Fach, das auch historisch von männlichen Denkern geprägt ist.
Zur Überprüfung starteten die Forscher eine Umfrage unter 1.800 Studierenden, Absolventinnen und Absolventen sowie Fakultätsmitgliedern in 30 Disziplinen. Sie mussten dabei etwa Aussagen wie der folgenden zustimmen oder diese ablehnen: "Ein Forscher in meinem Feld braucht eine spezielle Eignung, die man nicht erlernen kann." Die Auswertung ergab, dass nach allgemeiner Einschätzung manche Fächer eher mit Brillanz und Genialität verbunden werden, andere hingegen mit Anstrengung und Ausdauer - das sehen die befragten Männer und Frauen interessanterweise ganz ähnlich.
Und tatsächlich: Ganz dem Klischee folgend finden sich in Ersteren deutlich mehr Männer, bei Letzteren sind beide Geschlechter relativ ausgeglichen vertreten. Und entgegen gängigen Annahmen findet sich diese Verteilung tatsächlich bei naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fächern. So waren z.B. in den USA 2011 54 Prozent der Ph.D.-Absolventen und -innen in Molekularbiologie weiblich - ein naturwissenschaftliches Fach, dass nach Ansicht der meisten sehr viel Fleiß erfordert. In Philosophie hingegen waren es nur 31 Prozent der Abschlüsse - hier gelten Begabung und geniales Denken als Grundvoraussetzungen.
Dass man für die vorzugsweise von Männern gewählten "Genie"-Fächer nicht wirklich mehr Brillanz braucht, haben die Forscher ebenfalls überprüft. Dann müsste man nämlich - so zumindest die Annahme der Forscher - in jenen Disziplinen, in denen es besonders schwer ist, einen Abschluss zu machen, deutlich weniger Frauen finden. Gemessen wurde dieser Umstand an der Zahl der Absolventen und -innen im Vergleich zu den Studierenden. Das hieße, die wirklich schwierigen Fächer werden eher von Männern gewählt. Diese Gegenhypothese ließ sich nicht bestätigen. Im Gegenteil: In den besonders selektiven Studiendisziplinen gibt es der Auswertung zufolge sogar überdurchschnittlich viele Frauen.
Stereotype im Kopf verankert
Die Forscher haben noch zwei weitere Gegenhypothesen überprüft: Eine ging der Frage nach, ob Frauen in Fächern, die besonders zeitaufwändig sind, unterrepräsentiert sind. Hier fand sich keinerlei statistischer Zusammenhang. Die dritte Alternativerklärung lautete, dass Männer dort in der Überzahl sind, wo systematisches und analytisches Denken mehr gefragt ist als z.B. Empathiefähigkeit. Auch hier fand sich kein Zusammenhang.
Anscheinend sind es ausschließlich irrationale wie unterbewusste Bilder und Stereotype zu vermeintlichen (Nicht-)Begabungen, die dazu führen, dass manche Bereiche für Frauen von vornherein weniger einladend wirken bzw. sie dort vielleicht tatsächlich weniger willkommen sind. Solche atomsphärische Gründe könnten die Studienwahl nach Ansicht der Studienautoren entscheidend prägen. In weiteren Untersuchungen wollen sie nun klären, ob Frauen die Fächer für Genies von sich aus meiden, oder ob die bereits in diesen Feldern Beschäftigten weibliche Interessenten aufgrund der Vorbehalte diskriminieren. Vermutlich sei es eine Kombination aus beidem.
Dass Stereotype jedenfalls tatsächlich entscheidend sind für die Verteilung der Studierenden, zeigt ein zusätzlicher Beleg der aktuellen Studie. Dafür haben sich die Forscher die Anteile von afroamerikanischen Studierenden und jenen mit asiatischem Hintergrund angesehen. Die Afroamerikaner leiden unter demselben Klischee wie Frauen: Sie gelten als weniger intellektuell begabt. Tatsächlich zeigte sich eine ähnliche Verteilung. In den "Geniefächern" findet man sie kaum. Bei den asiatischstämmigen Studierenden hingegen war kein vergleichbarer Zusammenhang feststellbar.
Abschließend haben die Forscher auch einen Rat für Universitäten: "Wenn sie den Wunsch haben, das Studium sowie einzelne Fächer zu diversifizieren, sollten sie Talent und Begabung besser herunterspielen und stattdessen betonen, dass man hart arbeiten muss, um im universitären Bereich erfolgreich zu sein."
Eva Obermüller, science.ORF.at