Dennoch dürften die gesundheitlichen Konsequenzen weniger dramatisch sein, als ursprünglich befürchtet.
Die Studie:
"Analysis of Japanese Radionuclide Monitoring Data of Food Before and After the Fukushima Nuclear Accident" von Stefan Merz , Katsumi Shozugawa und Georg Steinhauser ist am 26.1. 2015 in der Fachzeitschrift "Environmental Science & Technology" erschienen.
Ö1 Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 3.2., 13:55 Uhr.
Starke Belastung von Gemüse
"Nach dem Unfall haben die japanischen Behörden Lebensmittel in einem noch nie dagewesenen Ausmaß auf Radioaktivität gemessen. Bis heute sind es rund 900.000 Proben", sagt Georg Steinhauser gegenüber science.ORF.at. Knapp 140.000 von ihnen hat der Strahlenphysiker von der Colorado State University gemeinsam mit Kollegen vom Atominstitut der TU Wien und der Universität Tokyo nun untersucht. Sie stammen aus drei Kategorien - Trinkwasser, Gemüse und Fleisch - und decken die ersten zwölf Monate nach der Katastrophe ab.
Bei Wasser seien "die Grenzwerte nur ganz zu Beginn überschritten worden", sagt Steinhauser. "Nach einer Woche war dieses Thema vom Tisch." Anders hat es bei Gemüse ausgesehen. "Bei Blattgemüse und ähnlichem wurden die Grenzwerte in den ersten Wochen nach dem Unfall am 11. März 2011 um das Hundertfache überschritten", so der Physiker. Nach einem Monat seien die Messwerte um den Faktor zehn gesunken, Mitte Juli überschritt keine der Proben mehr die Grenzwerte.
Im August änderte sich das wieder, denn dann begann die Pilzsaison, und Pilze sind bekannt dafür, Cäsium zu speichern. Auch Mitte November wurden wieder einige Überschreitungen gemeldet - das lag zum einen an den getrockneten Pilzen, die dann auf den Markt kamen, zum anderen an Teeprodukten, die ebenfalls Cäsium speichern.
0,9 Prozent der Proben überstiegen Grenzwerte
"Wichtig ist zu betonen, dass über 80 Prozent der untersuchten Proben nicht vom Markt stammten, sondern direkt von Bauern oder Verteilungszentren. D.h. der größte Teil der kontaminierten Lebensmittel kam gar nicht erst in Umlauf und in die Einkaufswägen der Konsumenten." Dennoch ist ein bestimmter Anteil der bedenklichen Ware in die Geschäfte gelangt - darauf haben Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace vor vier Jahren aufmerksam gemacht.
Steinhauser glaubt, dass die gesundheitlichen Folgen, die sich daraus ergeben haben, dennoch "im Rahmen" geblieben sind. "Wenn einmal die Grenzwerte bei einem Lebensmittel überschritten werden, ist das noch nicht automatisch ein Problem. Die Gesundheit ist vor allem dann gefährdet, wenn die Grenzwerte über ein Jahr lang jeden Tag überschritten werden", so der Forscher. Insgesamt überschritten im ersten Jahr nach dem Unfall japanweit 0,9 Prozent der gemessenen Proben die Grenzwerte. In der Präfektur Fukushima waren es 3,3 Prozent.
Anderes Muster bei Fleisch
Beim Fleisch haben die Forscher ein ganz anderes Muster beobachtet als beim Gemüse. Hier hat es bis Juli gedauert, ehe die Grenzwerte bedenklich überschritten wurden. "Es dauert Monate, bis die Tiere relevante Mengen Radiocäsium über die Nahrung aufgenommen haben und in die Muskelmasse einbauen", erklärt Steinhauser.
Betroffen war zunächst vor allem Rindfleisch. Bei Hühner- und Schweinefleisch habe es geringere Kontaminationen gegeben, bei Wildfleisch hingegen hohe: Wildschweine etwa ernähren sich bevorzugt von cäsiumreicher Nahrung, unter anderem von Pilzen und Regenwürmern, und deshalb stiegen ab September die Werte abermals an.
Kreative Messungen der Strahlenbelastung
Wie sich die radioaktiven Lebensmittel tatsächlich auf die Gesundheit der Bevölkerung ausgewirkt haben, ist nicht so einfach zu messen. Japanische Forscher haben bei der Frage aber enormen Erfindungsreichtum gezeigt, erzählt Steinhauser, der selbst sechs Wochen lang in Fukushima geforscht hat. So haben Studienteilnehmer dafür Geld bekommen, damit sie Duplikate ihres gesamten Konsums sammeln.
"Jeden Bissen, den sie gemacht haben, gab es zweimal. Jeden Kaugummi und jeden Müsliriegel. Das Duplikat kam in ein Säckchen und wurde später untersucht. Das ist eine sehr gute Möglichkeit, um die reale Strahlenbelastung zu erforschen." Die Ergebnisse seien relativ erleichternd gewesen: "Es ist nahezu ausgeschlossen, dass eine signifikante Anzahl der japanischen Bevölkerung den erlaubten Grenzwert von einem Millisievert pro Jahr überschritten hat." Eine Studie an Kindern, deren Strahlenwerte mittels Ganzkörperzählern untersucht wurden, hätten ähnliche Resultate gebracht.
Gefährliches Garteln
Gefährdeter als Personen, die im Supermarkt eingekauft haben, waren jedenfalls solche, die im eigenen Garten Lebensmittel angebaut oder Pilze gesammelt haben. Sie haben auf diese Weise - bewusst oder unbewusst - die behördlichen Schutzmaßnahmen umgangen.
"Das war schon eine der Lehren aus Tschernobyl, wo das Phänomen - aufgrund des autarken Charakters der ländlichen Bevölkerung - viel weiter verbreitet war. In Fukushima ist das wesentlich besser abgelaufen." Vergleiche würden zeigen, dass die Bevölkerung um Tschernobyl tausend oder mehr Mal so viel strahlenbelastete Nahrung aufgenommen hat wie jene von Fukushima.
Messmethode sollte verändert werden
Eine sehr praxisrelevante Folge hat die aktuelle Studie laut Steinhauser ebenfalls. Die Wiener Forscher empfehlen nämlich teilweise eine Korrektur bisheriger Messmethoden. Der Hintergrund: Wenn - wie nach dem Atomunfall von Fukushima - sehr viele Lebensmittel gemessen werden müssen, dann muss das schnell gehen. Ein Test von Cäsium-137 (Cs-137) etwa braucht nur einige Minuten, von Strontium-90 (Sr-90) hingegen etwa einen Tag. Da die beiden Radionuklide üblicherweise gemeinsam auftreten, messen die Behörden nur das Cäsium und schließen aus dieser Messung auf das Strontium.
"Das war in der Anfangsphase nach dem Unfall auch korrekt", erzählt Steinhauser. "Im Lauf der Zeit aber steigt der Anteil von Sr-90 in Lebensmitteln relativ zu Cäsium an." Nach fünf, sechs Jahren könnte das dazu führen, dass die Ein-Millisievert-Grenze pro Jahr überschritten wird, ohne dass die Lebensmittel in den Messungen wegen eines zu hohen Cäsium-137 Gehalts aufgefallen wären. Steinhauser und Kollegen appellieren daher an die japanischen Behörden, die Vorschriften anzupassen und dem Strontium im Lauf der Zeit einen höheren Anteil an der Gesamtbelastung zuzuschreiben. Noch gebe es kein Gesundheitsproblem, aber man habe nicht mehr allzu viel Zeit.
In der Europäischen Union gelten übrigens für importierte japanische Lebensmittel generell die gleichen - sehr strengen - Grenzwerte wie in Japan. "Skurrilerweise liegen sie für Importe aus von Tschernobyl betroffenen Ländern höher, obwohl die Strahlenbelastung dort viel höher war", so Steinhauser.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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