Erbgut zu 99 Prozent gleich und doch so anders
Schimpansen sind unsere nächsten Verwandten, wir teilen mit ihnen rund 99 Prozent unseres Erbguts. Die dennoch auffälligen Unterschiede in Aussehen und Verhalten sind also nicht genetisch fixiert. Von Dingen wie Kultur und Gesellschaft einmal abgesehen, liegen sie rein biologisch betrachtet nicht an den Genen, sondern an anderen Mechanismen in der DNA. Konkret an "Schaltern" (Enhancers), die bestimmen, ob Gene überhaupt aktiv sind oder nicht. Diese Schalter regulieren u.a., wie sich aus Körperzellen bestimmte Gewebe entwickeln. Einige von ihnen sind ausschließlich beim Menschen vorhanden.
Die Studie:
"Human-Chimpanzee Differences in a FZD8 Enhancer Alter Cell-Cycle Dynamics in the Developing Neocortex" von Jonathan Lomax Boyd und Kollegen ist am 19. 2. 2015 in "Current Biology" erschienen.
Links:
- Genetic Regulation of Human Brain Size Evolution, Dissertation von Jonathan Boyd
- Jonathan Boyd, Duke University

Silver lab, Duke University
Mausembryo mit der menschlichen HARE5-Variante: blau markiert ist der Gehirnbereich mit verstärktem Wachstum
Wie nun eine Gruppe um die Genetikerin Debra Silver von der Duke University Medical School berichtet, hat man bisher aber noch keinen der "Genschalter" direkt mit der Gehirnanatomie in Verbindung gebracht. In ihrer neuen Studie haben sie deshalb Genomdatenbanken von Menschen und Schimpansen nach diesen "Schaltern" durchforstet. Rund 100 Kandidaten ergaben sich, davon blieben sechs über, die sich in der Nähe von Genen befinden, die mit der Entwicklung des Gehirns zu tun haben.
Ein Plus von zwölf Prozent
Die Forschergruppe nennt sie "human-accelerated regulatory enhancers" (HARE), also in etwa: "mensch-beschleunigte Regulationsschalter". Als stärkster Kandidat hat sich HARE5 erwiesen. Zwar unterscheiden sich die Varianten von Schimpanse und Mensch chemisch nur gering, ihre Auswirkungen waren aber überaus deutlich.
Wurde die menschliche Variante in Mäuseembryonen eingeschleust, so war sie früher und stärker aktiv als jene der Schimpansen. Das menschliche HARE5 führte zu viel mehr Vorläuferzellen von Neuronen und damit auch zu mehr Nervenzellen. Fazit: Ihr Gehirn wuchs deutlich schneller.
Am Ende der Schwangerschaft waren die Gehirne der Mäuse um durchschnittlich zwölf Prozent größer als jene ihrer Artgenossen, die mit Schimpansen-HARE5 "versorgt" worden waren. Konkret betroffen war der Neocortex: eine Gehirnregion, die beim Menschen u.a. für Bewusstsein und Sprache zuständig ist.
"Beeindruckende Studie"
"Total interessant und neuartig" findet die Studie Magdalena Renner vom Institut für Molekulare Biologie (IMBA) in Wien. Renner arbeitet im Team von Jürgen Knoblich, das vor etwas mehr als einem Jahr von der Entwicklung künstlicher Minigehirne berichtet hat. "Üblicherweise werden bei derartigen Studien die Gensequenzen verschiedener Arten verglichen und die Proteine untersucht, die von ihnen hergestellt werden." Erstmals hätten die US-Forscher nun aber die Funktion der "Genschalter" für das Gehirnwachstum in einem lebenden Organismus untersucht.
Renner selbst arbeitet u.a. an der Mikrozephalie, also am krankhaften Kleinwuchs von Gehirnen. In dem Forschungszweig sind mehrere Risikogene bekannt, die zu diesem fehlerhaften Wachstum führen können. Versuche mit den Risikogenen bei Mäusen hätten aber weit geringere Effekte gezeigt als in der aktuellen Studie - oder gar keine. "Die durchschnittlich zwölf Prozent Gehirnwachstum sind beeindruckend", sagt Renner.
Um die Risikogene für Mikrozephalie genauer zu untersuchen, müsste man das gleiche Prinzip anwenden wie die Gruppe von Debra Silver und die Auswirkungen von Schimpansen- und Menschen-Varianten etwa in Mäusen vergleichen. "Das wurde bisher aber nicht gemacht."
Das Größenrätsel geht weiter
Das Rätsel um die Größenentwicklung unseres Hirns ist damit noch nicht gelöst, schreiben die US-Forscher. Aber: "Wir haben ein kleines Stück der genetischen Basis dafür entdeckt", so Gregory Wray, Biologe an der Duke University und einer der Ko-Autoren.
Die nächsten Schritte der Forschergruppe: untersuchen, wie sich die beiden HARE5-Varianten auf Gehirnstruktur und Verhalten erwachsener Mäuse auswirken.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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