Neues Puzzlestück
Bei dem neuen Fundstück handelt es sich um eine linke Unterkieferhälfte mit fünf Zähnen. Die Form des Kiefers und der Zähne lasse darauf schließen, dass es sich bereits um einen Vertreter der Gattung Homo handelt - und nicht um einen der berühmten "Lucy" nahestehenden Urahn. Dieses 3,2 Millionen Jahre alte Skelett, das 1974 ebenfalls in Äthiopien gefunden wurde, wird zur - ausgestorbenen - Gattung Australopithecus gezählt. Aus einem Vertreter dieser Gruppe entwickelte sich wahrscheinlich die Gattung Homo, so die derzeit gängige Annahme.
Die Studien in "Science":
"Early Homo at 2.8 Ma from Ledi-Geraru, Afar, Ethiopia" von B. Villmoare et al.,
"Late Pliocene Fossiliferous Sedimentary Record and the Environmental Context of early Homo from Afar, Ethiopia" von E.N. DiMaggio et al., beide erschienen am 4. März 2015.
Die Studie in "Nature":
"Reconstructed Homo habilis type OH 7 suggests deep-rooted species diversity in early Homo" von Fred Spoor et al., erschienen am 4. März 2015.
Ö1-Sendungshinweis
Über dieses Thema berichtet auch das Mittagsjournal, 5.3.2015, 12.00 Uhr.

Kaye Reed
"Der neue Fund ist eine weitere Bestätigung für die Evolution", erläutert Faysal Bibi, der für das Berliner Naturkundemuseum an den Auswertungen beteiligt war. Menschliche Merkmale zeigten sich demnach früher als bisher angenommen. Noch sei es aber wie bei einem Puzzle. "Wir kennen jetzt ein Stück mehr - aber noch nicht die ganze Geschichte", ergänzt Bibi. In der Zeitspanne vor 2,5 bis 3 Millionen Jahren, aus der es bisher kaum Fundstücke gibt, existierten vermutlich mehrere frühe Homo-Linien. Der heutige moderne Mensch - der seit etwa 200.000 Jahren existierende Homo sapiens - gilt als einziger Überlebender der Gattung.

Erin DiMaggio

Philipp Gunz, Simon Neubauer, Fred Spoor
Noch wissen die Forscher nicht, wie der Frühmensch, dessen Unterkiefer nun entdeckt wurde, aussah. Klar ist aber, dass er - wie auch "Lucy" schon - auf zwei Beinen lief. Er lebte in einem Grasland mit Büschen und Wäldchen. Es gab Antilopen, prähistorische Elefanten, eine Nilpferdart, Krokodile und Fische, belegen Tierfossilien aus dieser Zeit. Ob der Frühmensch ein Jäger war und Fleisch aß? "Vielleicht, wir wissen es aber nicht", sagt Bibi. Die frühesten Werkzeuge, die bisher gefunden wurden, seien 2,6 Millionen Jahre alt. Ob der Frühmensch Feuer machen konnte oder sich Behausungen baute, ist ebenfalls unbekannt.
Evolutionäres Bindeglied
Das heutige Äthiopien gilt wegen seiner aufsehenerregenden Fossilienfunde als eine Wiege der Menschheit. Das nun entdeckte Stück aus dem Ledi-Geraru-Gebiet in der Afra-Region könnte möglicherweise einem Vorfahren von Homo habilis oder einer anderen Art der Gattung Homo gehört haben, vermutet Fred Spoor, der am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forscht. Er und sein Team haben hier jüngst das Aussehen des Frühmenschen Homo habilis (geschickter Mensch) mit Hilfe von 1,8 Millionen Jahre alten Fossilien aus Tansania und modernen bildgebenden Verfahren rekonstruiert. Neben der Gehirngröße ist dabei auch die Form des Unterkiefers wichtig.
"Komplexe statistische Analysen zeigen Gestaltunterschiede zwischen den Unterkiefern verschiedener Frühmenschenarten, die manchmal so groß sind wie die Unterschiede zwischen Schimpansen und heute lebenden Menschen", berichtet Max-Planck-Forscher Philipp Gunz. Für die Leipziger Forscher ist es deshalb ein Glück, dass in Äthiopien nun ausgerechnet ein Kieferstück gefunden wurde. Sie halten es für ein plausibles evolutionäres Bindeglied zwischen "Lucy" und späteren Fundstücken des Homo habilis - ein Übergangsfossil sozusagen.
Zeit des Umbruchs
Bisher wurden die ältesten Homo-Fossilienfunde auf ein Alter von 2,3 oder 2,4 Millionen Jahre datiert, berichten die Forscher um William Kimbel von der Arizona State University in Tempe in "Science". Weil ausgerechnet in der Zeit zwischen diesen Knochenfunden und der deutlich älteren "Lucy" die Geburtsstunde des Menschen vermutet wird, ist das neu entdeckte Fossil so spannend: Es wird nach Angaben der Forscher mit Hilfe von Röntgentechnik auf ein Alter von 2,75 bis 2,8 Millionen Jahre datiert.
Dies war eine Zeit des Umbruchs. "Das Klima veränderte sich. Es wurde deutlich trockener", berichtet der Berliner Forscher Bibi. Noch wisse man aber viel zu wenig, um darauf schließen zu können, dass die menschliche Gattung Homo möglicherweise das Ergebnis eines Klimawandels sein könnte. Dazu würden weitere Funde benötigt. In dem Wüstengebiet in Äthiopien, in dem heute Nomadenstämme leben, wird weiter nach Spuren von Frühmenschen gesucht.
science.ORF.at/APA/dpa