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Menschen im digitalen Datenstrom.

Schwarmtiere und Menschenschwärme

Ob Ameisengewimmel oder werkelnde Bienen: Seit jeher neigt der Mensch dazu, seine Vorstellungen gesellschaftlicher (Un)Ordnung in die Tierwelt zu projizieren. Insektenschwärme sind für die politische Zoologie dabei von besonderem Interesse - und das seit der Antike.

Seit der Antike 09.03.2015

In ihrer fluiden, unfassbaren Gestalt sind sie ein treffendes Sinnbild für die politische Verwirrung unserer Zeit, meint der Historiker Martin Gronau in einem Gastbeitrag.

Zu den Ursprüngen politischer Insektologie

Von Martin Gronau

Porträtfoto des Historikers Martin Gronau

Martin Gronau

Martin Gronau studierte Gymnasiallehramt für die Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Altgriechisch an den Universitäten Dresden und Siena. Gefördert vom Internationalen Graduiertenkolleg "Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert" begann er sein Promotionsstudium im Fach Alte Geschichte (und Altorientalistik) an den Universitäten Innsbruck und Frankfurt/Main. Als IFK_Junior Fellow lebt er aktuell in Wien.

Veranstaltungshinweis:

Am 9.3. hält Martin Gronau einen Vortrag mit dem Titel " Der antike Schwarm. Überlegungen zur Archäologie bio-politischer Verwirrung".

Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17,
1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.

Links:

Es ist bekannt, dass die phantastische Vorstellungswelt der griechischen Antike von mythischen Hybridwesen bevölkert wurde. Statische Grenzen zwischen Mensch und Tier waren ihr fremd: Aristoteles konnte sein Pflegekind aufgrund seines niederen Status 'Ameise' nennen. Die Priesterinnen der Demeter und Persephone bezeichnete man als 'Bienen'.

Bei musischen Wettbewerben wurden komplexe Tanzchoreographien nach den nachgeahmten Schwarmtieren benannt. Und in den klassischen Komödien traten regelmäßig Tierchöre auf: griechische Bürger als Vögel, Wespen, Frösche und Ameisen.

In derartigen Aufführungen wurden auch die animalischen Ursprünge der menschlichen Kultur zum Leben erweckt. In zahlreichen Kulturentstehungslehren dieser Zeit emanzipierte sich die Menschheit schließlich aus einer "tierhaften Lebensweise", die in den Quellen oft als "ungeordnet", "verwirrt" und primitiv beschrieben wird. Vor der Entdeckung der Kultur lebten die Menschen demnach "wie die wimmelnden Ameisen, in den hintersten Höhlenwinkeln ohne Sonnenstrahl".

Einigen griechischen Mythen zufolge sind die Menschen aus Ameisen entstanden, als Resultat einer Metamorphose. Eine Fabel Äsops hingegen erzählt das Gegenteil: Die Ameisen seien einst Menschen gewesen. Damals wie heute waren die Register des Humanen und Animalischen nur schwer voneinander zu trennen.

Ambivalente Naturdeutungen

Die griechische Antike gilt gemeinhin als Epoche intensiver Naturempirie: Die Bienenzucht war bereits eine bedeutende und hochinstitutionalisierte Kulturtechnik. Gelehrte Priester beobachteten den Vogel- und Insektenflug, um aus ihnen Vorzeichen zu lesen.

Einerseits künden die griechischen Erzählungen vom Segen, den auftauchende Bienenstöcke ankündigt haben sollen. Andererseits finden sich in Geschichtswerken Nachrichten davon, wie ganze Städte infolge schlimmer Bieneninvasionen umsiedeln mussten. Insektenschwärme konnten also auch Angst und Schrecken verbreiten.

Der unzählbare Feind

Die Faszinationsgeschichte (un)heilbringender Schwärme lässt sich dabei bis nach Mesopotamien zurückverfolgen. In einem überlieferten Herrscherbrief, der wohl um 1850 v. Chr. verfasst wurde, berichtet ein verzweifelter Regent von einem Angriff durch nomadische Stämme des benachbarten Hochlandes. Diese erschienen ihm unaufhaltbar, "zahlreich wie Gras". Sie kennen "weder Häuser noch Tempel", "paaren sich wie Vögel", vermehren sich rasant. "Wie Heuschrecken" seien sie eingefallen, bedrücken das Land "wie eine Nebelbank", auch: wie ein "böser Sturm".

Die Schwärme der Nomaden und Heuschrecken haben in dieser Erzählung eines gemeinsam: Sie verkörpern die Ungestalt des Andersartigen. In den Augen moderner KulturwissenschaftlerInnen wie Eva Horn und Sebastian Vehlken gilt der Schwarm in diesem Sinne als ein bewegter "Körper ohne Oberfläche", dessen Ränder immer unscharf bleiben. In ästhetischer Verwandtschaft mit Wolken, Rauch und Feuer seien Schwärme kaum zu durchschauen, schwer zu begreifen, und noch schwerer zu besiegen. Faszination und Bedrohung gehen hier seit jeher Hand in Hand.

Intelligente Kollektive

Aristoteles vertritt in seinen Schriften die Auffassung seines akademischen Lehrers Platon, dass die Menschen nicht die einzigen "politischen Tiere" seien. Ihm zufolge teilten sie sich diese Lebensweise vor allem mit den schwarmbildenden Insekten: mit Ameisen und Bienen, bis hin zu den lästigen Wespen.

Diese in biologischen Analogieschlüssen begründete Klassifizierung erwies sich als überaus wirkmächtig: In ihrer Folge fungieren die Staaten der Insekten auch heutzutage noch oft als Modell zur Optimierung der Menschenwelt. Unter dem Schlagwort der kollektiven Intelligenz müssen die komplexen Insektenvölker nicht selten als Vorbild dynamischer, dezentral vernetzter Selbstorganisation herhalten: auf den Straßen, in der Wissenschaft, im Web 2.0.

Ein Schwarm Vögel fliegt in Bäumen

Martin Gronau

Wie alt das zugrundeliegende Argumentationsprinzip ist, wird dabei häufig übersehen. Unter Verweis auf die Tierwelt diskutierte schon Aristoteles die demokratiefreundliche These, dass die einfache Menge - "nicht jeder Einzelne für sich, sondern die Gesamtheit" - in bestimmten Fällen bessere Entscheidungen treffen könne als eine politische Elite der "Wenigen". Quantität schlägt hier in Qualität um: Im organischen Kollektiv werde aus der Menge der Vielen regelrecht "ein einziger Mensch, der zahlreiche Füße, Hände und Wahrnehmungsorgane besitzt, aber ebenso auch eine bessere Gesinnung und einen vermehrten Intellekt."

Gibt es im Gegenzug auch eine Schwarmlogik der kollektiven Verdummung? Diese Frage scheinen sich meist nur diejenigen Beobachter der Gesellschaft zu stellen, die sich selbst der konturlosen Menge enthoben wähnen. Nicht selten gilt für diese Kritiker das alte Sprichwort: "Eine Biene ist besser als ein ganzer Schwarm Fliegen". Sich selbst denkt man in solchen Wendungen leider meist im Singular.

Politische Insektologie

Der Mensch als politisches Insekt ist gewiss eine merkwürdige Kreation! Problematisch ist die keineswegs nur metaphorische Verschränkung von Menschen- und Insektenwelt aus verschiedenen Gründen: Seit der Antike ermöglichte sie eine zoologische Erniedrigung des Fremden und Anderen - nicht nur in Gedanken und Wörtern, sondern auch in der Tat. Spätestens im Humanismus der Moderne konnte dadurch auch eine Entartung der menschlichen Wesensart an sich denkbar werden.

In animalischen Superorganismen ist das einzelne Insekt alles andere als einzigartig: ein reiner Funktionsträger. Droht dem mit Tieren gleichgestellten Menschen nicht ein ähnliches Schicksal individueller Austauschbarkeit? Er wäre dann kein namhaftes Individuum eines menschlichen Gemeinwesens mehr, sondern nur noch ein funktionierendes und gut vernetztes Exemplar einer inhumanen Gattung. Selbst der vermeintliche Demokratietheoretiker Aristoteles konnte daher die befremdliche Ansicht vertreten, dass nicht nur die "Sklaven von Natur", sondern auch die "Barbaren wie Tiere und Pflanzen zu behandeln" seien.

Schwärme der Gegenwart

Ist die Gefahr einer politischen Insektologie in unserer Zeit gebannt? In Hinblick auf den herabwürdigenden Umgang der Wohlstandsnationen mit vermeintlichen Migrantenschwärmen muss dies wohl fraglich bleiben. Sobald die Soldaten und Drohnen des eigenen Kulturkreises in modernster Militärtaktik in fremdes Gebiet ausschwärmen, müsste man erst recht ins Grübeln kommen: Dann erscheint man nämlich selbst als Teil jenes wimmelnden Anderen, welches nicht nur eine faszinierende Anziehungskraft ausüben kann, sondern auch echten Horror verbreitet.

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