Standort: science.ORF.at / Meldung: "Warum wir Angst vor Pizzaschnitten haben"

Pizzastück mit Salami und geschmolzenem Käse

Warum wir Angst vor Pizzaschnitten haben

Das Auge isst bekanntlich mit - nur in viel größerem Ausmaß, als uns bewusst ist, sagt der Brite Charles Spence. Der Pionier der Geschmacksforschung erklärt in einem Interview, warum wir blaue Steaks hassen, von abstrakter Kunst inspirierte Salate mögen und uns bisweilen vor Pizzastücken fürchten.

Essen & Trinken 27.03.2015

science.ORF.at: Wie kann ich sicher sein, dass meine Empfindung von Süße oder Bitterkeit die gleiche ist wie die von anderen Menschen?

Charles Spence: Sie können nicht sicher sein. Die Geschmacksempfindung ist vermutlich jener Sinn, bei dem sich Individuen am stärksten unterscheiden. Das hat mit der genetischen Veranlagung zu tun, aber natürlich auch mit persönlichen Erfahrungen.

Charles Spence

Charles Spence

Charles Spence ist Leiter des Crossmodal Research Laboratory an der University of Oxford. Für seine Forschungen zur Integration von Sinnesinformationen erhielt er einige Auszeichnungen - darunter auch den IgNobelpreis zur Klangveränderung von Kartoffelchips - aka "sonic crisp".

In der aktuellen Ausgabe von Cell hat Spence einen Überblick zur Wissenschaft des guten Geschmacks veröffentlicht: "Multisensory Flavor Perception".

Warum ist zum Beispiel Lakritze in Skandinavien sehr populär, während es in anderen Ländern eher nicht so gerne gegessen wird?

Unsere Vorlieben für gewisse Aromen entstehen sehr früh. Studien zeigen: Neugeborene sind eher am Geruch von Anis interessiert, sofern ihre Mütter während der Schwangerschaft Speisen mit Anisgeschmack gegessen haben. Ich vermute, genau das ist in Skandinavien der Fall: Die Norwegerinnen essen während der Schwangerschaft einfach öfter Lakritze als es die Mütter anderswo tun und geben ihre Vorliebe zu einem gewissen Grad an ihre Kinder weiter.

Welcher Sinn ist für den Geschmack am wichtigsten?

Nachdem das Essen in unseren Mund gelangt, ist es für uns natürlich anzunehmen, die meiste Geschmacksinformation würde von den Geschmacksknospen auf der Zunge aufgenommen. Doch das stimmt nicht, der Geruchssinn hat den größten Anteil. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen in mein Büro kommen und sagen: "Ich hatte einen Unfall oder eine Erkrankung – und nun kann ich das Essen nicht mehr schmecken." Nach Tests stellt sich so gut wie immer heraus: Die Geschmacksknospen funktionieren bestens, aber die Betroffenen haben ihren Geruchssinn verloren.

Sie haben in Ihren Untersuchungen herausgefunden, dass bei der Wahrnehmung von Nahrung auch Sehen und Hören eine wichtige Rolle spielen. Hat auch die Farbe des Geschirrs einen Einfluss?

Absolut. Desserts auf weißen Tellern schmecken süßer als auf schwarzen. Selbst die Form von Tellern kann einen Unterschied machen. Runde Formen werden mit Süßem assoziiert, eckige eher mit den anderen Geschmacksqualitäten. Davon abgesehen hemmen rote Teller und blaue Tabletts den Appetit.

Was auch für Diäten interessant sein könnte.

Natürlich, der Effekt wurde schon in den 20er und 30er-Jahren in Nordamerika zu diesem Zweck eingesetzt. Und auch von Restaurantbesitzern, die verhindern wollten, dass ihre Gäste am All-you-can-eat-Buffet zu viel essen.

Von Alfred Hitchcock wird erzählt, er habe seinen Gästen bei einer Party blau gefärbtes Essen serviert, um sie zu verunsichern. Warum reagieren wir auf Blau negativ?

Eine Ursache ist, dass Blau bei Lebensmitteln selten ist. Wir sind einfach nicht daran gewöhnt. Es kommt allerdings darauf an, was wir essen oder trinken. Auf blaues Fleisch und blauen Fisch reagieren wir negativ, bei Isodrinks, Slush oder Cocktails ist die Akzeptanz bedeutend größer. Und ich glaube, dass wir heute eher geneigt sind, blaues Essen zu uns zu nehmen als zu Hitchcocks Zeit.

Laut Studien lassen sich Probanden durch die Farbe eines Getränks leicht beeinflussen und "schmecken" Aromen, die gar nicht da sind. Wie weit geht unsere Beeinflussbarkeit?

Auf diesem Gebiet gibt es mittlerweile mehr als 150 Studien. Die vielleicht lustigste wurde mit Weinexperten in der Region Bordeaux durchgeführt. Sie bekamen einen Weißwein, einen Rotwein und einen rot eingefärbten Weißwein vorgesetzt, der äußerlich von einem echten Roten nicht zu unterschieden war, und wurden aufgefordert die Bouquets zu beschreiben. Da fielen Wörter, die von Zitrus- und Steinfrüchten über Schokolade und Käse bis hin zu Katzenpisse reichten.

Katzenpisse?

Ja, das ist eine Phrase, die der Weinkritiker Oz Clark für eine gewisse Sorte Wein eingeführt hat. Das Ergebnis der Studie war: Die Experten beurteilten den gefärbten Weißwein wie einen Rotwein. Sie ließen sich vom Auge leiten, ihre Erfahrungen wurden also von ihren Erwartungen bestimmt.

Das ist kaum zu glauben – bei Fachleuten?

Ja, das ist es! (lacht) Man sollte erwarten, dass Experten weniger leicht hereingelegt werden können als durchschnittliche soziale Weintrinker. Doch laut der Studie ist das Gegenteil der Fall. Der Grund dafür ist, dass Experten viel mehr aus der Farbe herauslesen können als andere. Das Experiment wurde übrigens später in Neuseeland wiederholt – mit dem Unterschied, dass die Forscher ihren Probanden diesmal sagten: "Ignorieren Sie, was Sie sehen, erzählen Sie uns nur, was Sie schmecken." Selbst unter diesen Bedingungen hatte die Farbe einen Einfluss.

Wir glauben, wir könnten nur sehen, nur schmecken, nur riechen - tatsächlich setzt unser Gehirn all diese verschiedenen Sinne zusammen. Unser Bewusstsein hat nur Zugang zum Ergebnis dieser Integration. Das zeigen auch Experimente mit Illusionen. Ich arbeite etwa im Labor mit einem Video, auf dem ein Gesicht zu sehen ist – verändern sich die Lippenbewegungen, haben die Testpersonen den Eindruck, es würde sich auch der Klang verändern. Ich kenne dieses Video seit 20 Jahren und trotzdem kann ich diese Illusion nicht unterdrücken.

Nehmen Sie selbst an Weinverkostungen teil?

Ja, klar.

Könnte es sein, dass derjenige, der als erstes den Mund aufmacht, meist Recht behält? Jemand sagt Johannisbeere – und alle schmecken Johannisbeere?

Stimmt, und die Antwort lautet dann meist: "Ja, jetzt wo Sie es erwähnen, schmecke ich es auch!" Dahinter mag ein gewisses Maß an Beeinflussung stehen, Experten haben allerdings die Fähigkeit, Gerüche und Geschmäcker klarer zu benennen als es bei Amateuren der Fall ist. Sobald es ein Wort dafür gibt, fällt es uns eben leichter, Dinge zu identifizieren.

Inwieweit beeinflusst das Arrangement des Essens die subjektive Wahrnehmung?

Wir haben im Londoner Science Museum zu diesem Thema eine große Studie mit tausenden Teilnehmern durchgeführt und herausgefunden, dass allein die Orientierung des Essens einen großen Unterschied macht. Wenn ein Pizzastück auf uns zeigt, mögen wir das weniger, als wenn es von uns weggerichtet ist.

Warum?

Das sind vermutlich uralte Wahrnehmungsmuster. Hirnscans zeigen, dass unser Gehirn Dreiecke und Winkel als Bedrohung interpretiert. Angenommen, ich würde Ihnen ein Dreieck so kurz auf einem Bildschirm zeigen, dass Sie es fast nicht wahrnehmen, dann würde dennoch Ihr Angstzentrum für kurze Zeit aktiv werden. Das ist auch sinnvoll, denn es könnte sich ja auch um eine Axt oder einen Dolch handeln. Natürlich ist dieser Effekt bei Pizza- oder Tortenstücken lächerlich. Wie dem auch sei: Die Leute haben es lieber, wenn die Pizza von ihnen weg zeigt.

Was haben Sie sonst noch herausgefunden?

Asymmetrische Orientierungen – also zum Beispiel das ganze Essen auf der linken Seite des Tellers – kommen nicht so gut an. Die Menschen bevorzugen Balance und Harmonie auf dem Teller.

Wir haben zum Beispiel im Rahmen der Versuche einen Salat wie ein Kandinsky-Gemälde arrangiert. Das mochten die Leute. Sie bevorzugten diesen Salat nicht nur gegenüber einem normalen Salat mit den gleichen Zutaten, sie waren auch bereit, mehr dafür zu bezahlen.

Im Moment versuchen wir herauszufinden, ob die Zahl der auf dem Teller präsentierten Dinge eine Rolle spielt. Im Westen ist es eher gebräuchlich, ungerade Zahlen zu verwenden. In Asien dürfte es umgekehrt sein, weil dort gerade Zahlen für Harmonie stehen. Die Frage ist: Kümmert uns das? Küchenchefs sind jedenfalls immer häufiger bereit, sich mit Wissenschaftlern zusammenzutun, um ihre Intuitionen zu überprüfen.

Können Sie als Geschmacksforscher Ihr Essen überhaupt noch unbeeinflusst genießen?

Ja, natürlich, ich esse gerne. Aber ich muss zugeben: Wenn ich in ein Restaurant gehe, analysiere ich automatisch die Situation. Stimmt die Musik? Wie ist das Essen arrangiert? In welchem Winkel liegt die Frühlingszwiebel auf dem Teller?

Ihre Meinung zum britischen Essen?

Es ist superb. Zugegeben, die 60er und 70er waren dunkle Jahre. Aber mittlerweile hat sich die Landschaft komplett verändert. Wir haben einige der weltbesten Küchenchefs wie zum Beispiel Heston Blumenthal, wir haben hypermoderne, experimentelle und traditionelle Küche und natürlich das Pub. Jetzt können wir aufrecht auf die andere Seite des Kanals blicken und sagen: Wir sind stolz auf die britische Küche!

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: