"Wenn sich der Staub gelegt hat, werden die Wissenschaftshistoriker interessante Fragen zu beantworten haben", bemerkte der britische Neuroinformatiker Peter Dayan kürzlich im Fachblatt "Science" nicht ohne Spott. Staub wurde in den letzten Monaten in der Tat aufgewirbelt, man könnte auch sagen: Es gab einen Putsch.
Henry Markram von der ETH Lausanne, Initiator und Kopf des europäischen "Human Brain Project" (HBP), war letztes Jahr in die Kritik geraten. Zum einen, weil er als Mitglied mehrerer Gremien eine Machtfülle angehäuft hatte, die fast notwendigerweise zu Interessenskonflikten führen musste.
Dass Markram, der Wissenschaftler, an Markram, den Projektchef, Bericht erstattete und darüber hinaus als Manager auch über die Verteilung von Geldern befand, fanden wenige seiner Kollegen gut. Freilich trauten sich das vor allem jene Forscher laut sagen, die beim HBP nicht mitmachten beziehungsweise nicht recht zum Zuge gekommen waren.
Komitee empfiehlt Kurskorrektur
Letzten Juli veröffentlichten die beiden Forscher Zachary Mainen und Alexandre Poulet (ersterer ist am HBP beteiligt) einen offenen Brief, in dem sie auch inhaltliche Kritik an dem Großprojekt äußerten. Hier war von einer "zu engen Ausrichtung" die Rede, soll heißen: zu viel Computertechnik und zu wenig Kognitionsforschung. Angesichts dieser Schieflage drohe das HBP zu scheitern, hieß es da.
Das endgültige Ziel ist es, die Vorgänge im menschlichen Gehirn in künstliche Schaltkreise zu übersetzen - eine "Bottom-up-Simulation" auf Superrechnern, ausgehend von Genen und Molekülen über Nervennetzwerke bis hin zur Großhirnrinde, dem Sitz des menschlichen Denkens.
Die Kritik verfehlte ihre Wirkung nicht. Die EU setzte einen unabhängigen Ausschuss ein, der die Vorwürfe überprüfen sollte. Kürzlich ist dessen Report erschienen - er gibt den Kritikern grosso modo recht. Kognitions- und Systembiologie werden fortan eine größere Rolle spielen. Der dreiköpfige Vorstand des HBP, das bisherige Zentrum der Entscheidungsgewalt, wurde aufgelöst und seine Kompetenzen dem Aufsichtsrat übertragen.
Der Bericht empfiehlt auch, das eher vage Ziel der Gehirnsimulation durch konkretere Probleme zu ergänzen, etwa die räumliche Orientierung oder die Entscheidungsfindung im Gehirn. Was ist von dem Flaggschiffprojekt in Zukunft zu erwarten? Antworten dazu gibt das folgende Interview mit dem österreichischen Biochemiker Alois Saria.
"Ich kann nicht in die Hirne der Forscher schauen"

Medizinische Universität Innsbruck
Alois Saria ist Leiter der Abteilung für Experimentelle Psychiatrie der MedUni Innsbruck.
science.ORF.at: Sie sind einer von drei österreichischen Teilnehmern am "Human Brain Project". Was ist ihre Aufgabe?
Alois Saria: Wir koordinieren an der MedUni Innsbruck ein Ausbildungsprogramm für Jungforscher und Doktoranden. Der Grund, warum es so ein Programm braucht, ist folgender: Das HBP ist extrem multidisziplinär, hier sind Mediziner, Biologen, Ingenieure, Computertechniker und Physiker beteiligt.
In den Studiengängen an europäischen Universitäten gibt es keine Curricula, die all diese Fachbereiche umfassen würden. Diese Lücke füllen wir, damit die beteiligten Nachwuchswissenschaftler alle Bereiche des Projektes verstehen können.
Kommen wir zu den jüngsten Entwicklungen: Henry Markram, der Kopf des HBP, wurde kürzlich entmachtet. Zurecht aus Ihrer Sicht?
Das möchte ich nicht beurteilen. Henry Markram war in der Planungsphase mit Sicherheit die treibende Kraft – ohne seinen Enthusiasmus wäre das Projekt aus meiner Sicht nie zustande gekommen. Im Zuge der letzten Evaluierungen wurde kritisiert, dass die die ETH Lausanne sowohl wissenschaftliche als auch die Managementverantwortung besitzt und dadurch Befangenheit entstehen könnte – was vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Die Strukturen werden jetzt in Arbeitsgruppen saniert.
Über Markram sagt man, er sei charismatisch, sonst hätte er wohl dieses Riesenprojekt auch nicht auf Schiene gebracht. Sein Führungsstil soll allerdings autokratisch sein. Was für ein Typ ist er?
Für mich ist er ein faszinierender Wissenschaftler. Er versteht multidisziplinäre Ansätze. Das kann man nicht von allen Fachkollegen behaupten – auch wenn sie gut sind. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass das HBP nicht nur aufgrund der Darstellungen von Markram genehmigt wurde. Es gab im Vorfeld eine seriöse wissenschaftliche Begutachtung. Und an dem 500 Seiten starken Projektantrag haben 80 Wissenschaftler mitgeschrieben.
Dass nun der Vorstand um Markram aufgelöst wurde, ist zumindest ungewöhnlich. Beim anderen Flagship-Projekt der EU, dem Graphen-Projekt, gab es nichts dergleichen.
Zumindest wurde nichts bekannt. Was intern im Graphen-Projekt passiert, weiß ich nicht.
Zum Inhaltlichen: Was ist das Ziel des HBP?
Das mag ein wenig technisch klingen, aber das Ziel des Projektes ist es, sechs vernetzte Computerplattformen herzustellen, auf denen Experimente durchgeführt werden. Diese reichen von der Simulation des Gehirns bis zur Entwicklungen neuer Computertechnologien.
Ist das Gehirn ein Computer?
Das ist eine spannende Frage. Klassische Computer können beispielsweise mathematische Operationen ungleich besser durchführen als unser Gehirn. Dafür hat das Gehirn im Vergleich zu Großcomputern einen extrem niedrigen Energiebedarf und eine hohe Fehlertoleranz. Selbst wenn Teile des Gehirns ausfallen, kann es das kompensieren, ein Computer kann das nicht. In einem Satz: Das Gehirn ist in Teilbereichen mit Computern vergleichbar, kann aber manche Aufgaben besser und manche schlechter lösen.
Was können wir aus einer Computersimulation des Gehirns lernen, wenn solche Wesensunterschiede zwischen Hirn und Computer bestehen?
Es kommt darauf an, dass man die Architektur des Nervennetzwerkes richtig auf den Computer überträgt – also in Gleichungen übersetzt. Wenn das Modell stimmt, dann muss es vergleichbar mit dem sein, was wir auch im Experiment am lebenden Gehirn sehen. Die Entwicklung der richtigen Modelle wird ein paar Jahre dauern. Sofern das gelingt, werden wir aus den Simulationen Eigenschaften des Gehirns herauslesen, die wir noch nicht kennen.
Zum Beispiel?
Die Gesetze und Regeln, nach denen sich Nervennetze ausbilden. Oder Informationen über die molekularen Grundlagen der Nervenverbindungen.
Gesetzt den Fall, das Ziel des HBP, nämlich eine Gesamtsimulation des menschlichen Gehirns, sei schon erreicht. Würde diese Simulation denken?
Das wage ich nicht zu behaupten. Der Computer würde die Physik und Biochemie des Denkens simulieren. Aber die Simulation hilft dem Computer nicht viel, denn er kann den Denkvorgang in keine Entscheidung umsetzen.
Wäre er dazu fähig, könnte der Computer sagen: "Ich habe keine Lust mehr auf eure Experimente."
Eine berechtigte philosophische Frage. Aber davon sind wir natürlich ganz, ganz weit entfernt.
Letztes Jahr haben zwei Forscher die wissenschaftliche Ausrichtung des HBP in einem offenen Brief hart kritisiert. Das Projekt sei nicht visionär, sondern größenwahnsinnig, sagen manche. Wie stehen sie dazu?
Das kann ich nicht unterschreiben. Henry Markram hat vor ein paar Jahren gesagt: "Meine Vision ist, dass wir das gesamte menschliche Gehirn auf einem Computer simulieren können." Das war in einer Phase, als die Europäische Union Ideen für wissenschaftliche Großprojekte gesammelt hat. Und die Vorgabe war, visionäre Ideen beizusteuern.
Worum ging es aus Ihrer Sicht in diesem Konflikt – nur um Wissenschaft oder auch um Macht und Geld?
Erlauben Sie mir, darauf nicht zu antworten. Ich kann nicht in die Gehirne der beteiligten Kollegen hineinschauen.
In der Projektbeschreibung des HBP steht, die Gehirnsimulationen würden auch zu Fortschritten bei Alzheimertherapien führen. Das halten viele für deutlich überzogen.
Es ist eine medizinische Informatikplattform für klinische Daten und Experimente geplant. Das wird per se sicher zu einem Erkenntnisgewinn führen: Denn heute klassifizieren wir zum Beispiel psychische Krankheiten nur aufgrund ihrer Symptome. Wir brauchen aber die Verknüpfung mit biologischen Daten – das wird die Diagnosen treffsicherer machen. Ob wir auch aus den Simulationen etwas über Krankheiten lernen, wird sich zeigen.
Noch ein Kritikpunkt: Um eine seriöse Simulation des Gehirns herstellen zu können, braucht es breites Wissen über die Art und Weise, wie sich Gehirnregionen verknüpfen. Diese Daten gebe es aber noch nicht, schreiben etwa die Neurowissenschaftler Yves Frégnac und Gilles Laurent.
Darüber kann man diskutieren. Ich persönlich schließe nicht aus, dass wir diese Informationen in fünf oder zehn Jahren haben. Unser Wissen ist in dieser Hinsicht sicher nicht bei null. Gegenwärtig laufen Forschungsprojekte in den USA, in China, Japan und Australien, die uns diese Daten liefern könnten.
Davon abgesehen: Um ein komplexes System zu simulieren, braucht man nicht alle Informationen. Astrophysiker können das Verhalten von Galaxien auf Großcomputern simulieren, obwohl ihre Messdaten lückenhaft sind.
Der Unterschied zur Galaxie ist nur: Das Gehirn hat biologische Funktionen. Lassen sich die über technische Simulationen darstellen?
Das glaube ich schon. Erkrankungen des Gehirns sind physikalisch-chemische Vorgänge.
Robert Czepel, science.ORF.at
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