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Hände im Kreis

Rückkehrkinder: Marginalisiert, aber erfolgreich

Kommunistische oder jüdische Eltern zu haben: Das waren in der NS-Zeit Gründe für Ermordung oder Exil, aber auch nach 1945 war es alles andere als leicht. Forscher haben nun untersucht, wie sich die Kinder von Rückkehrern in Österreich schlugen, nachdem diese von den Nazis vertrieben worden waren. Fazit: Sie waren wenige, aber erfolgreich.

Zeitgeschichte 15.04.2015

Schätzungen gehen davon aus, dass nur 3.500 bis 4.500 Österreicher und Österreicherinnen diesen Schritt gewagt haben - eine sehr geringe Anzahl im Vergleich zu den Zehntausenden, die von den Nazis ins Exil vertrieben oder ermordet wurden.

Dennoch gibt es eine Gruppe, anhand der sich das Schicksal der Rückkehrer und ihrer Kinder gut erforschen lässt: die Gruppe der "Kinderjause". Dabei handelt es sich um rund 200 Personen, die zwischen 1939 und 1953 geboren wurden und die sich seither nicht aus den Augen verloren haben. Sie besuchten gemeinsame Schulen, verbrachten ihre Freizeit miteinander, waren miteinander politisch aktiv und gingen zum Teil Lebenspartnerschaften ein. Seit über 15 Jahren treffen sich diese Kinder ehemaliger österreichischer Widerstandskämpfer und Flüchtlinge regelmäßig zu einer "Kinderjause".

Ein interdisziplinäres Team - bestehend aus der Linguistin Ruth Wodak, dem Psychiater Ernst Berger und der Historikerin Helene Maimann, die alle selbst Mitglied der Gruppe sind - hat in einem Forschungsprojekt 30 von ihnen interviewt. 2016 sollen Endergebnisse vorgestellt werden, schon vergangene Woche gaben die drei Forscher bei einer Veranstaltung an der Diplomatischen Akademie in Wien erste Einsichten - und vorab der Psychiater und Psychotherapeut Ernst Berger in einem Interview.

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Ernst Berger

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Ernst Berger ist Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut

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Dem Thema widmete sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 15. April, 13.55 Uhr.

Ernst Berger: Die gemeinsame Lebensphase in der Kindheit und Jugend, die geprägt war durch die Geschichte der Eltern. Sie waren Widerstandskämpfer, zum Teil im Exil, viele waren in Konzentrationslagern inhaftiert. Und sie sind zurückgekehrt in eine Heimat, aus der sie vertrieben wurden. Ihre Kinder hatten über lange Strecken gemeinsame Lebenssituationen, sind in ähnliche Schulen gegangen, haben gemeinsam ihre Freizeit verbracht, es sind Partnerschaften entstanden, die zum Teil bis heute existieren. Das hat eine bleibende Verbindung geschaffen.

Sie hatten auch alle kommunistische Eltern?

Ja, das war Auswahlkriterium unserer Forschung, sie waren alle Mitglieder der Kommunistischen Partei. Der überwiegende Teil hat sich im Lauf der 60er Jahre von ihr abgewandt. Nach dem Prager Frühling 1968 sind fast alle aus der KPÖ ausgeschieden.

Als Heimkehrer, die vor den Nazis geflohen waren, stellten sie eine winzige Minderheit dar …

Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass überhaupt nur 1.000 Vertriebene zurückgekehrt sind. Die Gruppe der "Kinderjause" war gesellschaftlich also marginalisiert. Denn von Beginn der Zweiten Republik ist der Widerstand gegen das NS-Regime und die Rückkehr aus einer KZ-Haft alles andere als hoch bewertet gewesen. Das waren Makel in der Gesellschaft und keine Auszeichnungen. Das hat dazu geführt, dass die Kinder in ihrer Sozialisation am Rande der Gesellschaft gestanden sind.

Nur ein Beispiel dafür: Viele der Kinder wurden staatspolizeilich observiert, wie man aus Akteneinsichten in den 80er Jahren weiß. Die ersten Einträge gab es wegen der Teilnahme an Ferienlagern in den frühen 50er Jahren. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Kinder der Sieger gegen den Faschismus dann staatspolizeilich schon als Kinder überwacht wurden, macht das die gesellschaftliche Marginalisierung recht deutlich. Demgegenüber stand der Zusammenhalt der Gruppe, die ihre Gemeinsamkeit bis heute erhalten hat.

Wie hat sich die "Kinderjause" später entwickelt?

Der überwiegende Teil hat einen Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden. Viele von ihnen arbeiten heute sehr prominent im Kultur- und Wissenschaftsbereich. Unter den 200 sind relativ viele Ärzte, Sozialwissenschaftler, Künstler und Psychotherapeuten, die sich mit dem Leben der Menschen beschäftigen. Wir erklären uns das zum einen mit dem Zusammenhalt der Gruppe und zum anderen mit einer von den Eltern übernommenen Zukunftsorientierung: eine Orientierung auf den Aufbau in Österreich und damit verbunden eine gesellschaftliche Verantwortung.

Wie sehr waren Vertreibung und Flucht Thema in der Kindheit?

Die meisten sagen, dass ihnen das immer bewusst gewesen war. Es gibt aber nur ganz wenig konkretes Wissen darüber. Das heißt, es war nicht Teil der gemeinsamen Gespräche, sondern die selbstverständliche Bedingung. In der linguistischen Auswertung der Interviews hat sich ein sehr interessantes Phänomen gezeigt: ein "Erzählschleier". Es ist nur wenig konkretes Wissen über das Schicksal der Eltern vorhanden, etwa über die Ermordung ganzer jüdischer Familien. Das wird bis heute mit verschleiernden Begriffen kommuniziert und war auch damals kein Thema.

Sie selbst sind ja Psychiater: Wie sehr sind diese Kinder oder ihre Eltern traumatisiert?

Eine interessante Frage, die uns in dem Projekt überrascht hat. Wir wussten theoretisch und fachlich, dass eine KZ-Haft oder das Exil unter den konkreten Bedingungen ein Traumafaktor für die Elterngeneration war und dass diese Traumata nicht folgenlos für ihre Kinder sind. Aber wenn man mit den Menschen redet, sagen sie aufs Erste alle: "Ich bin nicht traumatisiert!" Wir haben in den Interviews aber Elemente gefunden, die zeigen, dass diese erste Betrachtungsebene nicht alles enthält. Auf den Ebenen darunter zeigten sich vorbewusste Elemente von Traumata.

Wir sind auf das Phänomen der "Tränenthemen" gestoßen: In den Interviews begannen die Personen an völlig unerwarteten Stellen plötzlich zu weinen und konnten es sich selber nicht erklären, warum. Dazu gibt es Berichte von Angstträumen, die sich durch die Kindheit und Jugend gezogen haben. Insgesamt sind das Hinweise auf Traumata, denen wir aber im Rahmen des Interviewprojekts nicht nachgehen können. Um auf die unbewusste Ebene zu kommen, würde es eines psychotherapeutischen Zugangs bedürfen.

Die Forschung der Biografien von Vertriebenen, die nach Israel oder in die USA gegangen sind, zeigt, dass sie dort überdurchschnittlich schnell sehr erfolgreich waren. Gibt es das Phänomen auch in Österreich?

Ja, ein erstaunlich großer Anteil der Gruppe ist zu erfolgreichen Menschen in der österreichischen Gesellschaft geworden, sie sitzen an wirksamen Stellen der Gestaltung bis heute. Wie bei Studien über Personen, die in die USA geflüchtet sind und heute im "Who is Who" überrepräsentiert sind, gibt es auch hier eine Art "Überkompensation". Wir haben festgestellt, dass es so etwas wie zwei Aufträge der Elterngeneration gibt. Einerseits den Auftrag der gesellschaftlichen Verantwortung, andererseits der Bildung des Besserseins. Diese beiden Komponenten sind die Wurzeln des Erfolgs. Wobei keine Karriereorientierung im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden war. Das war gar nicht Teil des Bewusstseins dieser marginalisierten Gruppe. Aber im weiteren Leben ist es so gelaufen.

Wie haben die Kinder den politischen Auftrag ihrer Eltern umgesetzt?

Es sind zwar nur wenige aktive Politiker geworden, sie waren und sind aber fast alle politisch stark engagiert. Dieses Engagement hat sich bereits in der Jugend manifestiert, etwa bei den Borodajkewycz-Demonstrationen 1965, später dann in der Studentenbewegung bis hin zu den 2000er Jahren, als gegen die schwarz-blaue Regierung demonstriert wurde, oder in Flüchtlingsfragen. All das ist nach wie vor ein markantes Element für die Menschen in dieser Gruppe.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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