Die Dunkelziffer sei aber weit höher, sagt Georg Hoffmann, Historiker am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und Kurator der Ausstellung "41 Tage. Kriegsende 1945 - Verdichtung der Gewalt", die am Donnerstag in Wien eröffnet wird.
Über 2.000 Flieger erlitten Gewalt
Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg rund 600 Flugzeuge über dem heutigen Bundesgebiet abgeschossen, die große Mehrheit davon US-amerikanische. Da jeder Bomber zehn Männer an Bord hatte, waren also rund 6.000 Personen betroffen. Eigentlich hätten sie als Kriegsgefangene behandelt werden müssen. Wegen der NS-Propaganda gegen die Verbreiter des "Bombenterrors" war das aber oft nicht der Fall.
"40 Prozent der Flieger wurde Gewalt angetan. Sie wurden geschlagen, erniedrigt, mussten sich entkleiden und wurden öffentlich zur Schau gestellt. Es kam auch zu Scheinhinrichtungen. Rund 100 wurden ermordet, 200 gelten noch heute als vermisst", erzählt Hoffmann.
Der Historiker hat in einem Forschungsprojekt gemeinsam mit Nicole-Melanie Goll relevante Archive in den USA, Großbritannien und Deutschland durchforstet, mit ehemaligen Beteiligten gesprochen und ist so auf die Zahlen gekommen. In einer Datenbank wurde erstmals das Schicksal jedes einzelnen Fliegers erfasst. Die Ergebnisse werden im Sommer 2015 in einem im Ferdinand Schöningh Verlag erscheinenden Buch veröffentlicht.
Ausstellung "41 Tage":
Vom 16. April bis zum 3. Juli 2015 ist in Wien auf dem Heldenplatz und im Äußeren Burgtor die Ausstellung "41. Tage. Kriegsende 1945 - Verdichtung der Gewalt" zu sehen. Gestalter sind das Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und das Institut für Geschichte der Uni Graz, in Kooperation mit dem Verteidigungsministerium.
Kuratorenteam: Heidemarie Uhl, Monika Sommer und Georg Hoffmann.
Ö1-Sendungshinweis:
Dem Thema widmete sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 16. April 2015, 13.55 Uhr.

National Archives and College Park Maryland
Am stärksten war die Gewalt gegen Flieger in der Nähe von Linz, Graz und Wien. Im Westen des heutigen Österreichs gab es hingegen so gut wie keine Pilotenmorde. "Das hat weniger mit den tatsächlichen Bombenangriffen zu tun - auch Klagenfurt oder Innsbruck wurden angegriffen -, sondern mit den regionalen NS-Machtstrukturen."
August Eigruber etwa, der Gauleiter von "Oberdonau", förderte persönlich diese Lynchmorde, und so wurden alleine am 25. April 1945 zwischen Steyr und Linz zehn Piloten getötet. Die Lynchmorde liefen laut dem Historiker beinahe immer nach dem gleichen Muster ab. Lokale NS-Parteifunktionäre leiteten die Gewalt an, vor Hunderten Augenzeugen wurden die Flieger misshandelt und ermordet. "Es gab dabei immer größere Menschenmengen."
Propaganda gegen "Terrorflieger"
"Vergewaltigungen" und "Bombenterror": Das sind die zwei prägendsten Erinnerungen, wenn an die letzten Tage des "Tausendjährigen Reichs" gedacht wird. Zumindest Letzterer wurde aber zu einem Gutteil auch von der Propaganda der Nationalsozialisten beschworen.
Der Luftkrieg begann im heutigen Österreich im Vergleich zu Deutschland nämlich erst relativ spät. Die ersten Angriffe von Amerikanern und - viel seltener - Briten erfolgten im Oktober 1943. "Tägliche Fliegerangriffe setzten hier 'erst' im Oktober 1944 ein", sagt Hoffmann. Die Angst vor den "Terrorfliegern", wie es die NS-Propaganda nannte, gab es aber schon viel länger. Während die eigenen Bombenangriffe auf die Alliierten immer rein militärisch definiert und als "Vergeltungsmaßnahmen" dargestellt wurden, galten die US-Flieger als "Verbrecher" und somit nicht als Soldaten - "ein entscheidender Baustein der Fliegerlynchjustiz", sagt Hoffmann.

Privat
Die Fliegerlynchmorde waren aber nicht nur Folge der Propaganda. Es gab auch handfeste politische Anweisungen von "ganz oben". "Die NS-Regierung beschloss im Mai 1944, dass 'die Lynchjustiz ab jetzt als Regel zu gelten' hat. Das heißt, es wurde festgelegt, dass sich die Bevölkerung an den 'Terrorfliegern' rächen solle. Über die Parteigremien sickerte diese Botschaft nach unten und wurde schließlich von lokalen NS-Ortsgruppenleitern gehört und umgesetzt. Das war also eine angeleitete und sanktionierte Gewalt. Laut einer Anweisung vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Ernst Kaltenbrunner, sollte jeder, der sich gegenüber abgeschossenen Fliegern zu freundlich verhält, ins KZ."
Diese Vorgaben zeigten Wirkung: Gab es bis dahin kaum Übergriffe auf abgeschossene Flieger, verbreiteten sie sich nach dem Mai 1944 großflächig - in allen Gebieten des "Dritten Reichs", auch in besetzten wie etwa Italien und Ungarn. "Das heißt, die Gewalt war eine unmittelbare Reaktion auf diese Beschlüsse - egal, wie die Bombenangriffe in den Regionen tatsächlich ausgeformt waren", erläutert Hoffmann. Das zeigen auch Morde abseits von Bombardierungsgebieten wie etwa in Schützen am Gebirge, Hieflau, Bleiburg und Molln.
Die Fliegerlynchjustiz begann im Sommer 1944, ein Dreivierteljahr später erreichte sie ihren traurigen Höhepunkt. "In den letzten Kriegstagen nahm sie die Form einer Machtdemonstration an. Flieger wurden demonstrativ vor Hunderten Augenzeugen ermordet, um Macht zu demonstrieren und Loyalität zu erzwingen."

Georg Hoffmann
Der Fall des Afroamerikaners Manning
Ein besonders tragischer Fall ereignete sich am 1. April 1945 in Linz-Hörsching. Betroffen war Walter Manning, ein Angehöriger der "Tuskegee Airmen". Dabei handelt es sich um einen Fliegerverband der US Army Air Force, in dem - aufgrund der damals gültigen Rassentrennung in den USA - nur Afroamerikaner dienten. "Diese wurden durch die NS-Propaganda noch stärker angefeindet", erklärt Hoffmann.
"Manning sollte von einem Ortsgruppenleiter gelyncht werden, was zunächst aber von Wehrmachtssoldaten verhindert wurde. Er wurde dann zum Fliegerhorst Hörsching in relative Sicherheit gebracht. Lokale Parteifunktionäre und NS-Führungsoffiziere versuchten, Zugriff auf Manning zu bekommen, um ihn der Lynchjustiz zuzuführen. Nach drei Tagen gelang ihnen das. Manning wurde schwer misshandelt und schließlich vor der Horstkommandantur erhängt, mit einer Tafel um den Hals, auf der stand: 'Wir wehren uns'", erzählt Hoffmann.
Besonders tragisch sei es, dass der Fall auch in den USA schnell vergessen wurde. Die Täter waren zwar bekannt, wurden aber niemals befragt und entsprechend nie gefasst. Mannings sterbliche Überreste liegen auf einem französischen Militärfriedhof.
Auch Fälle von Hilfe
So sehr sich der Furor der Nationalsozialisten in den letzten Kriegstagen noch einmal steigerte - Stichworte: Todesmärsche, "Kremser Hasenjagd" und Massaker von Rechnitz -, sich daran beteiligen musste man nicht. "Das gilt auch für die Fliegerlynchjustiz", sagt Hoffmann. "Es gab auch viele Fälle, bei denen Flieger versteckt wurden und ihnen geholfen wurde."
Wer sich jedoch daran beteiligte, handelte jedenfalls nicht ausschließlich im Affekt nach einem Bombenangriff, ist der Historiker überzeugt. "Das hatte eine eigene Logik und ein langes Vorspiel. So wurden zum Beispiel Flieger, die in Ungarn abgeschossen wurden, nach Amstetten transportiert und dort vorgeführt - also dorthin, wo die Lynchjustiz nach Ansicht der Nationalsozialisten 'nötig' war."
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
Mehr zu dem Thema:
- Rückkehrkinder: Marginalisiert, aber erfolgreich
- "Körperspenden" für die NS-Medizin
- Vor 70 Jahren: 41 Tage, 30.000 Ermordete
- Schwerpunkt 70 Jahre Kriegsende
Links:
- 41 Tage (Twitter)
- 41 Tage (Facebook)
- Dissertation zur Fliegerlynchjustiz (Universität Graz)
- Erinnern.at