Eine Lösung sieht sie in persönlichem Verzicht - und etwas "anderem als dem Kapitalismus".
science.ORF.at: Sie haben einmal gesagt, unsere Epoche ist dadurch charakterisiert, dass sie unablässig mit der Optimierung des Falschen beschäftigt ist. Was ist das Falsche, das wir ständig zu optimieren versuchen?
Marianne Gronemeyer: Wir leben in einer Wachstumsgesellschaft, die unablässig damit beschäftigt ist, Müll zu produzieren. Ich behaupte sogar, diese Gesellschaft ist außer Stande, irgendetwas anderes außer Müll zu produzieren. Wachstum kann ja nur erreicht werden, wenn wir einen enorm schnellen Wechsel an Produkten haben, wenn jeweils das Neueste als das Beste gilt – vor allem in einer Gesellschaft, in der bereits von allem mehr als reichlich vorhanden ist, gibt es keine andere Möglichkeit, Wachstum zu garantieren, als durch die Produktion von Müll. Diese Umlaufgeschwindigkeit von Produkten kann mit Nachhaltigkeit natürlich nicht überein gehen. In Wirklichkeit ist es paradox, Wachstum UND Nachhaltigkeit zu fordern, was aber nach wie vor alle tun.
Marianne Gronemeyer ist ehemalige Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der FH Wiesbaden, seit 2006 ist sie als wissenschaftliche Publizistin tätig. 2011 erhielt sie den Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung.
Veranstaltungshinweis:
Marianne Gronemeyer hält am Donnerstag, den 23.4.2015 um 18:00 Uhr, im Rahmen der Verantsaltungsreihe "Mut zur Nachhaltigkeit" in Wien einen Vortrag zum Thema "Verzicht ist möglich. - Wirklich?".
Ö1 Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 23.4., 13:55 Uhr.
Der Fortschritt der Gesellschaft basiert also auf Irrtümern?
Ja, das tut er. Wir befinden uns in einer Situation, die von der Katastrophe nicht weit entfernt ist. Jeder weiß, dass die Krise längst im Gange ist. Wir brauchen nur an den Klimawandel zu denken, die Vermüllung der Meere, das Aussterben von Fischbeständen – ich kann das gar nicht alles aufzählen. Die Katastrophenmeldungen stehen uns täglich ins Haus, und wir können doch nicht so tun, als ob wir mit dem Weg, auf den wir uns begeben haben, noch auf dem Weg des Fortschritts sind - wir befinden uns in einem unvorstellbaren Niedergang.
Wir haben unsere Lebensgüter ruiniert, indem wir sie zu Ressourcen gemacht haben. Alles, was die Welt zu bieten hat, wird nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob es als Ressource für menschliche Bedürfnisse taugt. Dann werden menschliche Bedürfnisse hergestellt, um sie dann mit Befriedungsmitteln aller Art für einen Augenblick wieder ruhigzustellen. Die Betonung liegt hier auf dem Augenblick – an die Sättigung von Bedürfnissen darf nicht gedacht werden, ansonsten könnte die Gesellschaft nicht wachsen.
Wie werden Bedürfnisse hergestellt?
Man macht ein Angebot, das die Menschen nicht ablehnen können, und lockt Begehrlichkeiten mit Angeboten hervor. Normalerweise wird zwar immer behauptet, dass sich die Angebote nach den Bedürfnissen der Menschen richten, doch es ist genau umgekehrt. Hinzu kommt, dass die Menschen bedürftig werden, weil sie sich nicht mehr selber versorgen können. Rund 200 Jahre lang haben wir einen veritablen Krieg gegen die Subsistenz geführt – also gegen die Fähigkeit von Menschen, sich miteinander aus eigenen Kräften zu erhalten. Die ganze Fortschrittsidee im Zuge der Industrialisierung und des Kapitalismus beruhte darauf, eigenes Tun, das uns als lästig erschienen ist, durch Waren ersetzen zu wollen.
Wenn wir überhaupt irgendetwas von dieser Idee der Nachhaltigkeit realisieren wollen, müssten wir diese Vorstellung, eigenes Tun durch Waren zu ersetzen, umkehren. Wir müssten also versuchen, wieder Waren in unserem Leben überflüssig zu machen und eigenständiges Tun an die Stelle von Waren zu setzen. Nur so hätten wir eine Chance, wieder ein menschliches Maß in unseren uferlosen Begehrlichkeiten zu etablieren.
Die Konsequenzen unseres Konsums sind nicht neu. Wir wissen vom Raubbau an Ressourcen, von der Vermüllung der Meere etc. Warum können wir das Wissen darüber aber nicht nutzen und ein "menschliches Maß" finden?
Es gibt natürlich viele gute Gründe: Einerseits sprechen die Dinge, mit denen wir gelockt werden, sehr existenzielle Aspekte unseres Lebens an. Es wird uns zum Beispiel versprochen, je mehr wir produzieren und je mehr wir unser eigenes Tun durch Waren, Maschinerien, Dienstleistungen etc. ersetzen, desto mehr Freiheit einerseits und Zeit andererseits würden wir haben. Das nächste große Versprechen ist, dass viele dieser Waren und Dienstleistungen uns Sicherheit garantieren, und schließlich wird uns damit auch Anerkennung in der menschlichen Gemeinschaft versprochen. Heute geht es ja weniger um die Frage, was jemand leistet, als was sich jemand leisten kann.
Das andere Problem ist, dass wir durch das Bestreben, uns jede Sorge um uns selbst abzunehmen, wirklich hilflos geworden sind. Es ist der Charme der Industriegesellschaft, der die Menschen verlockt hat, zu glauben, dass damit das Paradies auf Erden anfängt. Wenn man mit allem versorgt wird, muss man sich um nichts mehr kümmern und kann von morgens bis abends ein fröhlicher Konsument sein. Dass wir dabei gleichzeitig, in eine totale Hilflosigkeit hineingeraten sind, wird oftmals nicht gesehen.
Nachhaltigkeit wird ja auch immer wieder stark mit Konsum verankert - man soll das richtige oder weniger kaufen, kein Fleisch essen etc. Kann man überhaupt nachhaltig konsumieren?
Konsum kann niemals nachhaltig sein – das ist unmöglich. Ohne, dass wir ein Stückchen Subsistenz wiedergewinnen, können wir uns nicht mit Nachhaltigkeit schmücken. Es ist ein erheblicher Verzicht notwendig. Das alles, was heute unter Nachhaltigkeit gehandelt wird, ist so widerwärtig und so unverschämt. Es ist ebenso wenig nachhaltig, Produkte um teures Geld zu kaufen, die durch ein bisschen ökologischen Schnickschnack aufgemotzt sind. Nachhaltigkeit taugt nicht mehr als Wort, mit dem wir noch irgendein substanzielles Nachdenken darüber in Gang setzen, was zu tun wäre.
Wie soll man aber Menschen dazu bringen "zu verzichten"?
Niemand kann die Menschen zum Verzicht zwingen. Es kann nur einen Weg geben, zu Verzicht zu kommen und das ist, eine absolute Empörung über gewisse Sachzwänge zu entwickeln. Ich bin zum Beispiel absolut empört, dass es mir unmöglich ist, aus eigenen Kräften meine Existenz zu sichern. Also die tägliche Entfähigung dadurch, dass ich nur noch Versorgungsempfängerin bin und dass mir die Möglichkeiten zur Fürsorge für mich und andere aus der Hand genommen werden - das ist für mich eine richtige Freiheitsberaubung.
Hat der einzelne Mensch eine Chance durch seine Kaufentscheidungen etwas in dieser Hinsicht zu beeinflussen?
Durch Kaufentscheidungen nicht, durch Kaufverweigerung schon. Ich glaube aber, dass die Fragen nach dem Erfolg und nach der Veränderung falsch sind. Wenn ich von dieser Empörung getrieben bin, dann tue ich das, was ich tue, unabhängig von der Frage nach dem Erfolg. Ich glaube, es wäre jetzt an der Zeit, einmal die Kunst der Unterlassung zu üben. Es kommt darauf an, eine Art von menschlichem Maß zurückzugewinnen, die uns ein auskommendes und zufriedenstellendes, vielleicht sogar beglückendes Leben ermöglicht. Auf äußerst bescheidenem Niveau.
Wie ist das bei Ihnen?
Ich habe diese Sehnsucht schon lange, obwohl ich auch nicht weiß, wie ich aus dem Schlamassel rauskomme. Ich bin sehr mobil, habe noch immer von allem viel zu viel, aber der Ekel wird größer und ich beobachte auch bei anderen, dass irgendwo eine Grenze erreicht sein wird. Diese Hoffnung habe ich. Ob die sich bewahrheitet, wird man sehen.
Es ist aber sicher keine Frage von Umerziehung, von Ökopädagogik – es geht nicht um die Durchpädagogisierung der Gesamtgesellschaft, sondern darum, dass Menschen aufmerksam werden. Ich glaube, wir müssen durchaus sehen, dass wir uns in einer Form der Endzeit befinden.
Endzeit im Sinne eines Endes des Systems vom Kapitalismus? Brauchen wir eine Systemänderung?
Ja, natürlich brauchen wir etwas anderes als den Kapitalismus, der eine der bedeutendsten Quellen dafür war, dass es soweit gekommen ist. Aber wem nützt es, die bloße Forderung zu stellen, dass wir ein neues System brauchen? Wir werden es nicht kriegen, außer das System bricht von selbst zusammen. Was auch durchaus nicht unwahrscheinlich ist.
Viele bemühen sich innerhalb des Systems, wirtschaftliche Alternativen zu finden – wie zum Beispiel die "Shared Economy". Was halten Sie von diesen Ansätzen?
Teilen ist durchaus eine schöne Idee, aber so wie es angegangen wird, ist es nur ein Teil desselben. Solange es im Grunde wieder nur darum geht, uns ein bisschen mehr Lebenserleichterung etc. zu versprechen und es nicht mit einer wirklichen Wende einhergeht - hinsichtlich der Vorstellung von dem, was wir wollen - solange ist alles, was wir uns an Alternativen ausdenken, nur eine Bedienung desselben Grundmusters. Wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen: Dieses System hat einen gigantisch großen Markt und verschlingt jede Möglichkeit, wirkliche Alternativen, sprich etwas ganz anderes, zu etablieren.
Ruth Hutsteiner, science.ORF.at
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