Standort: science.ORF.at / Meldung: "Depression und Serotonin - ein Mythos?"

Trauriger Mann greift sich auf die Stirn

Depression und Serotonin - ein Mythos?

Serotonin-Wiederaufnahmehemmer werden jährlich millionenfach gegen Depressionen verschrieben. Zu Unrecht, sagt der britische Psychiater David Healy: "Die Pillen schaden mehr, als sie nützen." Seine These hat in der Fachgemeinde eine Debatte ausgelöst. Die Fronten scheinen verhärtet.

Medizin 27.04.2015

Das "British Medical Journal" ist eine Zeitschrift, die das in Wissenschaftskreisen so begehrte Attribut "renommiert" trägt. Jedenfalls eine, in der seriöse Studien erscheinen und die Autoren wissen, wovon sie reden. Als solcher hat sich David Healy kürzlich öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt. Wenngleich nicht mit einer Studie, sondern mit einer bewusst gesetzten Provokation - so zumindest empfinden es die Adressaten seiner Kritik.

Der Psychiater von der Bangor University zieht in einem kürzlich erschienenen Editorial über die Pharmabranche und die Ärzteschaft her. Seine These: Die Konzerne hätten einen Mythos ins Leben gerufen und die Mediziner seien ihnen auf den Leim gegangen.

Nachlese

David Healy: "Serotonin and depression", British Medical Journal (21.4.2015; doi: 10.1136/bmj.h1771).

Reaktionen auf Healys Editorial: Switch on Anti Depression Today

Kirsch-Studie: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration, PLoS Medicine (doi: 10.1371/journal.pmed.0050045; 26.2.2008)

Reaktion darauf: "Committee for Medicinal Products for Human Use assessment on efficacy of antidepressants", European Neuropsychopharmacology (9.3.2009).

"A regulatory Apologia — A review of placebo-controlled studies in regulatory submissions of new-generation antidepressants", European Neuropsychopharmacology (14.6.2008).

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtet auch "Wissen aktuell", 27.4.2015, 13:55 Uhr.

"Diese Pillen machen gar nichts gut"

Es geht um sogenannte SSRIs - Medikamente, die in den Serotoninstoffwechsel des Gehirns eingreifen und, so zumindest die Hoffnung, gegen Depressionen wirken. Dass die Hoffnung verbreitet ist, zeigen Statistiken: Allein die Substanz Fluoxetin, besser bekannt unter dem Markennamen "Prozac", wurde 2010 in den USA mehr als 20 Millionen Mal verschrieben. Auch in Österreich und Deutschland ist die Verschreibung von SSRIs alltäglich.

Laut Healy gibt es keine ausreichenden Belege für diese Praxis. "Die Ansicht, dass Depressionen durch einen Serotoninmangel ausgelöst werden, ist ein Mythos", sagt Healy im Gespräch mit science.ORF.at. "Den haben die Marketingabteilungen der Pharmafirmen erfunden. Sie sagen: 'Wir wissen, was der Grund für Ihre Depressionen ist. Nehmen Sie unsere Pillen, die machen alles gut.' Aber diese Pillen machen gar nichts gut. Wenn Sie diese Medikamente schlucken, ist Ihr Serotoninsystem abnormaler als zuvor."

"Das Beste, was wir momentan haben"

Eine These, die freilich nicht unwidersprochen bleibt. Francesca Regen, klinische Psychiaterin an der Charité in Berlin, kann mit solchen Aussagen wenig anfangen. "Was Healy in seinem Editorial schreibt, ist sehr subjektiv - jedenfalls keine evidenzbasierte Medizin." SSRIs seien im Moment das Beste, was bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen zur Verfügung steht. "Diese Substanzen wirken sehr wohl. Sie nicht zu nutzen", sagt sie, "wäre Nihilismus".

Die Debatte über den Nutzen und Nachteil der SSRIs beschäftigt die Fachgemeinde schon länger. Bereits Ende der 90er Jahre veröffentlichte der Harvard-Mediziner Irving Kirsch eine Studie, die die Wirksamkeit der Medikamente in Frage stellte.

2008 wiederholte er diese mit Daten der amerikanischen Food and Drug Administration und bestätigte seine vorherigen Ergebnisse. Die lauteten: Bei schwachen und moderaten Depressionen ist die Wirkung von SSRIs kaum größer als der Placeboeffekt. Bei starken Depressionen lässt sich eine - wenngleich schwache - Wirkung belegen.

Widersprüchliche Interpretationen

Was daraus folgt, ist durchaus umstritten. Für David Healy bedeutet das, dass die meisten Verschreibungen sinnlos sind und - in Anbetracht der Nebenwirkungen - vermieden werden müssten. Regen indes hält das für eine Fehlinterpretation.

Kirschs Studie habe einen statistischen Effekt sichtbar gemacht, "den man auch mit anderen Medikamenten herstellen könnte, etwa bei Blutdruck- oder Fiebersenkern. Wenn ich 40 Grad Fieber habe, wird der Effekt groß sein. Bei 37 Grad lässt sich die Wirkung kaum vom Placebo unterscheiden. Da heißt aber nicht, dass das Medikament nichts bringt." Sie verweist auf andere Metaanalysen, bei denen die SSRIs deutlich besser abschneiden als es in Kirschs Studie der Fall war.

So steht denn Aussage gegen Aussage, bei den Studienergebnissen ebenso wie in Bezug auf mögliche Alternativen. Healy votiert im Zweifelsfall für den Einsatz von älteren Präparaten, den trizyklischen Antidepressiva. Die wiederum verschreibt Regen gar nicht mehr. "Die Nebenwirkungen sind den Patienten nicht zumutbar." Healy kontert: "Die Nebenwirkungen mögen breiter sein, aber sie sind nicht so stark wie bei den SSRIs."

Gesucht: Die Ur-Ursache

Wer von beiden hat Recht? Eine eindeutige Antwort scheint kaum möglich. Und falls doch, ist sie wohl von der Perspektive abhängig. Je nachdem, ob man Nebenwirkungen vermeiden will oder die Chance auf Linderung der Leiden in den Vordergrund rückt.

Dass die SSRIs bisweilen nicht vom Placebo zu unterscheiden sind, wie manche Studien nahelegen, hält die deutsche Forscherin für nicht ausgemacht. "Die Wirkung ist da. Und außerdem: Auch ein Placebo wäre nicht Nichts."

Immerhin, in einem Punkt herrscht Konsens. Serotonin sei ein Puzzlestein und könne nicht alle Aspekte von Depressionen erklären, das gestehen beide Wissenschaftler zu. Die große Theorie der biologischen Ursachen müsse noch gefunden werden - ebenso wie das Präparat für alle Patienten.

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: