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Studien im Dornröschenschlaf

Bis der Wert einer wissenschaftlichen Arbeit sichtbar wird, kann es unter Umständen Jahrzehnte dauern. Eine Analyse von 22 Millionen Fachartikeln zeigt: Solche "Sleeping Beauties" sind viel häufiger als angenommen. Der hektische Wissenschaftsbetrieb ist darauf nicht eingestellt.

Zitate 26.05.2015

Nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland kehrte Albert Einstein Europa endgültig den Rücken. 1933 kam er in Princeton an, wo er mit Boris Podolsky und Nathan Rosen zwei Kollegen fand, die - so wie er - mit der Entwicklung der Quantentheorie nicht glücklich waren. 1935 ersannen und veröffentlichten die drei ein Gedankenexperiment, es wurde später unter dem Namen "Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox" bekannt.

Die Studie

"Defining and identifying Sleeping Beauties in science", PNAS (25.5.2015; sobald online).

Kern des Gedankenexperiments ist die sogenannte Quantenverschränkung - ein Phänomen, das den gesunden Menschenverstand in der Tat auf die Probe stellt. Zwei verschränkte Teilchen sind nämlich, wie Einstein es nannte, durch eine "geisterhafte Fernwirkung" verbunden: Vollzieht man an einem Teilchen eine Messung, ist somit auch das Messergebnis für das andere Teilchen augenblicklich bestimmt. Ohne Zeitverzögerung.

Und was noch schlimmer ist: auch unabhängig davon, wie weit die beiden Teilchen voneinander entfernt sind. Im Prinzip könnte sich das eine in Europa befinden und das andere auf dem Sirius, die Theorie verbietet das nicht. Deshalb waren Einstein und seine Kollegen der Ansicht, dass mit der Quantentheorie etwas nicht stimmt.

Die Arbeit der drei löste in der Fachgemeinde zwar Diskussionen aus, aber zitiert wurde sie nicht besonders oft. 1994 war sie plötzlich wieder in aller Munde. Das einstige Gedankenexperiment war nun im echten Experiment angekommen - und wurde mit 60 Jahren Verspätung auf einmal extrem häufig zitiert. Fazit der Langzeitdebatte: Einsteins Zweifel an der Theorie war unbegründet, physikalische Geistererscheinungen sind in der Quantenwelt offenbar Programm.

Zahlreiche "Sleeping Beauties"

Das mag ein besonders prominentes Beispiel für das späte Erwachen eines wissenschaftlichen Beitrags sein, berichten nun Forscher um Alessandro Flammini von der Indiana University - aber es ist beileibe nicht das einzige. Im Gegenteil: Solche "Sleeping Beauties" - wie sie Wissenschaftsforscher nennen - sind Flammini zugfolge weit verbreitet.

Häufig dauere es mehr als vier Jahre und in Extremfällen eben einige Jahrzehnte, bis die Fachwelt den Wert einer Arbeit richtig zu schätzen wisse, schreiben die Forscher im Fachblatt "PNAS". Ihre Analyse von 22 Millionen Fachartikeln zeigt: Vor allem in Fächern wie Chemie, Physik und Mathematik verweilen Beiträge häufig im Dornröschenschlaf, bis sie von der Fachwelt gewürdigt werden. Anders ausgedrückt: Dass sich der Wert einer Arbeit unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung zeigt, mag ein Wunsch sein, die Statistik indes liefert wenige Anhaltspunkte dafür.

Der Verlauf von Zitationskurven wäre nur von akademischem Interesse für "Szientometriker", wenn das Ganze nicht auch unmittelbare Konsequenzen für die Praxis hätte. Zitate sind nämlich die Währung für wissenschaftliche Reputation, und gezählt werden sie in aller Regel mit Rückschau auf die letzten ein bis fünf Jahre, selten länger.

"Die Forschung ist viel zu normal"

Die Zahl von Zitaten pro Forscher/Studie/Institut ist etwa ein wichtiger Faktor bei Universitätsrankings, mittelbar wohl auch bei der Vergabe von Forschungsgeldern, auch wenn das offiziell gerne bestritten wird. Gerhard Fröhlich von der Universität Linz sieht darin ein Systemproblem. "Die Wissenschaft ist viel zu sehr an kurzfristigen Moden interessiert. Alles was man nicht 'ungeschaut' zitieren kann, sich also abseits des Mainstream befindet, wird bestraft."

"Normalwissenschaft" hat Thomas Kuhn jene Wissenschaft genannt, die sich brav und präzise innerhalb des etablierten Rahmens bewegt, ihn aber nicht durchbricht. Fröhlich zufolge ist die Wissenschaft heute viel zu "normal", um Innovationen zuzulassen.

Diese Diagnose würde vermutlich nicht jeder unterschreiben, gleichwohl fällt auf, dass es dort, wo es um wirklich epochale Entdeckungen geht, tatsächlich nicht so hektisch zugeht. Gemeint ist der Nobelpreis: Wie eine Untersuchung letzten Jahres zeigt, müssen Forscher immer länger auf den begehrtesten aller Wissenschaftspreise warten. Zwischen Entdeckung und Nobelpreisverleihung dauert es mittlerweile mehr als 20 Jahre. Hier hat, so scheint es, der Dornröschenschlaf ein Refugium gefunden.

Das sei grundsätzlich gut, betont Fröhlich, die nachhaltigen Folgen von Forschung ließen sich eben erst Jahrzehnte später bestimmen - wenngleich nicht unbedingt im Sinne des Erfinders: "Nobel wollte mit seinem Preis aktuelle Forschungen unterstützen. Heute sind Nobelpreisträger meist ältere Herren, die nach der Verleihung von Cocktailparty zu Cocktailparty geleitet werden. Mit der Forschung ist es für sie dann meist vorbei."

Robert Czepel, science.ORF.at

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