In seinem Pamphlet "Verzeihen?" attackierte Jankélévitch mit leidenschaftlicher Vehemenz Philosophen wie Martin Heidegger, die sich weigerten, über ihr Engagement für die Nationalsozialisten zu sprechen. Hellsichtig war seine Kritik an Heidegger, den er den "Sturmabteilungen der deutschen Philosophie" zurechnete - im Gegensatz zu den Repräsentanten der postmodernen Philosophen wie Jacques Derrida oder Jean-Francois Lyotard, die in Heidegger den "heimlichen König im Reich der Philosophie" sahen.
Biographie
Vladimir Jankélévitch wurde am 31. August 1903 als Sohn einer jüdischen Intellektuellenfamilie in Bourges geboren. 1922 begann er ein Studium der Philosophie an der École Normale Supérieure und lernte den Philosophen Henri Bergson kennen, der einen starken Einfluss auf ihn ausübte. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss arbeitete er am Institut français in Prag und kehrte 1933 nach Frankreich zurück, um an mehreren
Universitäten zu unterrichten.
Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten wurde Jankélévitch auf Grund eines Gesetzes des Vichy-Regimes aus dem öffentlichen Dienst entlassen, was ihn zutiefst traumatisierte. 1941 engagierte er sich in der Résistance, wo er unter anderen mit dem Soziologen Edgar Morin und dem Hölderlin-Forscher Pierre Bertaux zusammenarbeitete. Nach dem 2. Weltkrieg kehrte Jankélévitch an die Universität zurück und lehrte Moralphilosophie an der Sorbonne in Paris bis 1975.
Neben seiner philosophischen Arbeit betätigte sich Jankélévitch auch als Musikwissenschaftler. Er befasste er sich vor allem mit französischen Komponisten wie Claude Debussy, Maurice Ravel oder Erik Satie.
Den Kontakt zur gesamten deutschen Kultur lehnte Jankélévitch als Folge seiner Traumatisierung ab. Es gab kein Pardon für das "Volk der Mörder und Henker"; Jankélévitch blieb unversöhnt bis zu seinem Tod am 6. Juni 1985.
Gegen das Vergessen
Polemisch äußerte sich der streitbare Philosoph aber auch über seine existenzialistischen Kollegen Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, weil sie sich während des Zweiten Weltkrieges nicht der Résistance angeschlossen hatten und sich danach bequem im "Gehäuse des Existenzialismus" eingerichtet hatten.
"Ich fühle die Verpflichtung, in mir das Leiden, die mir erspart geblieben sind, zu verlängern", bekannte Jankélévitch. Für den traumatisierten Philosophen wurde es zur Lebensaufgabe, die Erinnerung an den Massenmord von sechs Millionen Juden aufrecht zu erhalten. "Das Vergessen wäre in diesem Fall eine schwere Beleidigung gegenüber denen", so schrieb er, "die in den Lagern gestorben sind und deren Asche für immer mit der Erde vermengt ist".
"Die Deutschen schlafen gut"
Mit Verbitterung reagierte Jankélévitch auf die halbherzigen Versuche von politischen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland, finanzielle Wiedergutmachung an den jüdischen Opfern zu leisten. "wir wollen euer Geld nicht", schrieb er in dem Essay "Verzeihen?" und in einer Rundfunksendung sagte er:
"Die Deutschen haben sechs Millionen Juden umgebracht, aber sie schlafen gut, sie essen gut, und der Mark geht es gut."
Diese Sendung wurde 1980 von dem deutschen Gymnasiallehrer Wiard Raveling gehört und löste bei ihm eine tiefe Betroffenheit aus. Danach verfasste er einen Brief an Jankélévitch in französischer Sprache und fügte einige Zitate aus Paul Celans Gedicht "Todesfuge" hinzu.
Ich bin völlig unschuldig an den Nazi-Verbrechen; aber das tröstet mich kaum. Ich habe kein gutes Gewissen. Ich habe ein schlechtes Gewissen und ich empfinde eine Mischung aus Scham, Mitleid, Resignation, Trauer, Nicht-glauben können, Empörung. Aber ich leide an meinem Land. Es gibt bei uns noch viele Schuldige, denen es gut geht.
Wider Erwarten erfolgte eine Antwort. Jankélévitch zeigte sich tief bewegt von Ravelings Schreiben.
Ich bin von Ihrem Brief bewegt. Ich warte auf diesen Brief seit 35 Jahren. Damit meine ich: auf einen Brief, in dem die Gräuel ohne Wenn und Aber anerkannt und beim Namen genannt werden. - und zwar von jemandem, der mit ihnen nichts zu tun hatte. Es ist das erste Mal, dass ich von einem Deutschen bekomme, der nicht eine mehr oder weniger versteckte Selbstrechtfertigung enthält.
Literatur
Bücher von Jankélévitch:
Das Verzeihen. Essays zur Moral- und Kulturphilosophie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1731
Der Tod, Suhrkamp Verlag
Die Ironie, Suhrkamp Verlag
Kann man den Tod denken? Gespräche, Turia&Kant Verlag
Bergson lesen, Turia&Kant Verlag
Erste Philosophie, Turia&Kant Verlag
Vorlesungen über Moralphilosophie, Turia&Kant Verlag
Das Ich-weiß-nicht-was und das Beinahe-Nichts, Turia&Kant Verlag
Satie und der Morgen, Matthes&Seitz Verlag
Vladimir Jankélévitch/Béatrice Berlowitz: Irgendwo im Unvollendeten, Turia&Kant Verlag
Sekundärliteratur:
Lucien Jerphagnon: Ahnen und Wollen: Vladimir Jankélévitch, Turia&Kant Verlag
Wiard Raveling: Ist Versöhnung möglich? Meine Begegnung mit Vladimir Jankélévitch, Isensee Verlag
Krititk und Unverständnis
Jankélévitchs radikale Ablehnung jeglicher Versöhnung zwischen Deutschen und Juden stieß vielfach auf Unverständnis. So äußerte der deutsch-jüdische Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt seine Bedenken über Jankélévitchs radikale Ablehnung alles Deutschen.
Goldschmidt berichtet auch von einem Treffen mit Jankélévitch, bei dem der Philosoph nachdenklich auf Einwände bezüglich seiner Bruchs mit der deutschen Kultur reagierte. Er wirkte kurzfristig verwirrt und erwiderte dem Besucher, "er wolle es sich überlegen und anders formulieren".
Grenzgänger der Nachkriegsphilosophie
Jankélévitchs unversöhnliche Haltung angesichts der nationalsozialistischen Massenmorden wird auch durch die Disposition seiner Persönlichkeit verständlich. "Ich bin auf der Seite derjenigen, die schwach, entwaffnet, vernachlässigt, minoritär sind", bekannte er im Gespräch mit Béatrice Berlowitz, "Ich bin für diejenigen, die alle Welt vergisst oder verleugnet, die niemand verteidigt noch beklagt".
Jankélévitchs Ruf als "gnadenloser Denker" verdeckt ein vielschichtiges, fein ziseliertes philosophisches Werk, das in seiner Eigenwilligkeit mit den enigmatischen Schriften von Jacques Derrida zu vergleichen ist. In seinen Büchern kann man Jankélévitch bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben beobachten, um Heinrich von Kleist zu variieren.
Obwohl der Querdenker in der akademischen Philosophie verankert war, kreiste sein Denken um Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz; seine Themen waren die Ironie, die Lüge, "das Ich-weiß-nicht-was und das Beinahe-Nichts" und vor allem der Tod.
Der Tod
In seinem beinahe 600 Seiten umfassenden philosophischen Hauptwerk "Der Tod" schrieb Jankélévitch über den Skandal des Todes, der speziell in der oberflächlichen Gesellschaft der Gegenwart verdrängt wird. Ihm ist bewusst, dass, wie es Thomas Bernhard formulierte, angesichts des Todes alles lächerlich ist.
"Der Tod ist eine Leere, die plötzlich mitten im Leben eines Wesens aufbricht", notierte Jankélévitch, "Das Seiende stürzt auf einmal durch die Falltür des Nicht-Seins". Der Tod ist das vollkommene Nichts. Hier beginnt für Jankélévitch das philosophische Paradoxon. Wer über den Tod spricht, spricht über etwas, von dem er nichts weiß und von dem er nie etwas wissen wird.
"Wer stirbt, stirbt allein"
Jankélévitch unterscheidet drei Perspektiven auf den Tod, die von der ersten, zweiten und dritten Person entfaltet werden. Der Tod in der dritten Person ist der anonyme, abstrakte Tod, wie er häufig in Zeitungsannoncen zu finden ist. Der Tod in der zweiten Person betrifft das Ableben von nahe stehenden Menschen, mit denen man einen Teil des Lebensweges absolviert hat. Der eigene Tod betrifft die erste Person; er betrifft unmittelbar, er verängstigt, denn "wer stirbt, stirbt allein, macht den einsamen Schritt allein, den niemand für uns machen kann und den jeder für sich allein vollziehen muss."
Die Tatsache, dass ich sterben muss, ist etwas Unbegreifliches, etwas Absurdes, konstatiert Jankélévitch. Gleichzeitig fungiert der Tod, der wie ein Damoklesschwert über uns schwebt, als Korrektiv; angesichts des Todes sollte das Leben möglichst intensiv gelebt werden. Der Tod ist ein "Organon-Obstaculum" - Werkzeug und Hindernis, er beendet alle Aktivitäten und spornt den Einzelnen an, ein Leben im Optimum zu führen. "Der Mensch ist dazu verurteilt, die Fülle zu denken und nur die affirmative Positivität des lebenden Sterblichen zu kennen!" betonte Jankélévitch.
"Geliebt haben und mehr nicht"
Als höchste Intensität bezeichnet der "gnadenlose Denker" Jankélévitch erstaunlicherweise die Liebe. "Gewesen sein, gelebt und geliebt haben" ist für ihn die einzige Strategie, um das Tremendum des Todes zu relativieren. "Geliebt haben und mehr nicht" - dieses Erlebnis vermittelt den "ganzen Zauber eines geheimnisvollen Daseins" und nobilitiert das menschliche Leben: Denn "niemand kann uns dessen berauben, niemand kann es uns streitig machen und niemand kann es jemandem verweigern".
Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
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