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Umrisse von 5 Menschen, sie sind durch Zahlen ausgefüllt

Die Geisteswissenschaften werden umgegraben

Die Digitalisierung hat auch vor den Geisteswissenschaften nicht Halt gemacht. Sie lässt es zu, riesige Mengen an Daten zu durchforsten und auszuwerten. Das ist mehr als ein Hilfsmittel für die "Humanities" und gräbt das Fach um, schreibt der Germanist Simon Ganahl in einem Gastbeitrag.

Digitalisierung 12.06.2015

Das Erbe der Geisteswissenschaften - etwa die Bildung und Einordnung von Begriffen - müsse dabei nicht verloren gehen, wie von manchen befürchtet. Weniger klassische Texte in Buchform und populärere Formate im Internet seien zu erwarten.

Sollen Historiker jetzt programmieren lernen?

Von Simon Ganahl

Der Germanist Simon Ganahl im Porträt

Simon Ganahl

Simon Ganahl ist Forschungsstipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (APART) und Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Zürich. 1981 in Bludenz geboren, studierte er Kommunikationswissenschaft und Germanistik in Wien, Hamburg und Zürich. Anfang 2015 erschien sein Buch "Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen" bei Konstanz University Press. 2012/13 war er Gastforscher an der School of Media Studies der New School in New York. Er ist Mitherausgeber des an die Universität Zürich angebundenen "foucaultblog" und wissenschaftlicher Leiter des multimedialen Forschungsprojektes "Campus Medius. Mediality as Experience, 1683-1933".

Ein Geist geht um an den ehemals geisteswissenschaftlichen Instituten, denen er bereits ausgetrieben worden war. So tritt dieser Zeitgeist keineswegs durchsichtig auf, sondern ganz handfest, in Nullen und Einsen sozusagen. Denn es hat sich bis in die Dekanate der philosophischen Fakultäten durchgesprochen, dass die jüngeren Kollegen ihre Bücher nicht mehr mit Federkielen schreiben.

Man will ja dem Gang der Weltgeschichte nicht nachhinken, auch in der ehemaligen Residenzstadt nicht, und deshalb sucht die Universität Wien seit diesem Sommersemester einen Professor oder noch lieber eine Professorin für Digital Humanities. Der Ausschreibung zufolge ist eine digitale Humanistin gefragt, die sich vor allem "mit kritischen Methoden der Digitalisierung, des Umgangs mit Massendaten sowie der semantischen Erschließung und des Forschens mit unterschiedlichen digitalisierten Quellengattungen" auskennt.

Egal ob im Archiv oder beim Geheimdienst?

Was die Ausbildung angeht, sind etwa ein Doktorat "in einem historisch-kulturwissenschaftlichen Fach verbunden mit fundierten Kenntnissen in der Informatik" erforderlich. Die Wunschkandidatin sollte, mit anderen Worten, Geschichte studiert und Programmieren gelernt haben, um Quellen tief in Datenmeeren zu versenken, aus denen frisches Wissen abgeschöpft werden kann. Ist die Zukunft der Geisteswissenschaften so berechenbar?

Sollen sich Absolventen der digitalen Geschichte, Philosophie oder Literaturwissenschaft aussuchen können, ob sie bei Archiven, Geheimdiensten oder Marketingunternehmen arbeiten? Denn die Methoden, mithilfe von Computern Ordnungsmuster in Datenbanken aufzudecken, werden nicht nur in Nationalbibliotheken angewandt, sondern weit professioneller in jenen politischen und wirtschaftlichen Organisationen, die unser Verhalten überwachen und lenken.

Digitale Textanalyse gibt es seit Langem

Die sogenannten Digital Humanities bedeuten keineswegs den Niedergang der Geistes- und Kulturwissenschaften, wie es Kritiken im Stil von Stanley Fish erwarten lassen, der in der New York Times eine Untergrabung seiner intellektuellen Autorität befürchtete. Das weite Forschungsfeld beschränkt sich im deutschsprachigen Raum allerdings auf einen gepflegten Nutzgarten.

Tatsächlich liegen textanalytische Verfahren am Ursprung der Disziplin: Schon 1949 begann der jesuitische Theologe Roberto Busa, an seinem Index Thomisticus zu arbeiten – eine in Zusammenarbeit mit IBM erstellte Konkordanz der Schriften Thomas von Aquins, die als Pionierarbeit der Digital Humanities gilt. Es waren auch in der Folge Computerlinguisten, die erste Fachzeitschriften und wissenschaftliche Organisationen gründeten. Im Rahmen der Text Encoding Initiative (TEI) setzte sich dann die Extensible Markup Language (XML) als Standard für digitale Editionen durch.

Kein Zweifel also, dass die Archivierung und Auswertung großer Datenmengen ein wichtiges Gebiet der Digital Humanities darstellt. In den englischsprachigen Ländern, allen voran die USA, haben sich die digitalen Humanistinnen aber längst von ihren Gründervätern emanzipiert. Eine Gruppe rund um den Literaturwissenschaftler Jeffrey Schnapp, der inzwischen in Harvard lehrt, veröffentlichte 2009 ein Manifest, das zu einer qualitativen Wende in den Digital Humanities aufruft.

Manifest für Digital Humanities 2.0

Es gehe nicht darum, massenhaft Daten zu sammeln und zu analysieren, um die Resultate dann in traditionellen Aufsätzen zu publizieren, die eventuell als PDF-Dateien online gestellt werden. Digital Humanities 2.0 grabe vielmehr das akademische Feld um, das sich im 19. Jahrhundert als Wissenschaften vom Menschen an den Universitäten etablierte. Die wichtigsten Konsequenzen sind laut Schnapp und seinen Mitstreitern:

1) Wissenschaftliche Forschung kann und soll nicht nur in Textform publiziert werden. Unsere Gegenwart eröffnet eine Vielzahl von medialen Möglichkeiten, Wissen zu schaffen und zu verbreiten, denen sich die akademische Welt weitgehend verschließt. Gedruckte Artikel und Bücher mögen weiterhin die Medien sein, in denen Theorien entwickelt und große Analysen angestellt werden. Aber wäre es nicht angemessener, die Quellen und Recherchen auf Blogs und Webseiten zu dokumentieren, Ergebnisse in Filmen zu veranschaulichen, auf interaktiven Karten und in mobilen Applikationen Interessierte zur Mitarbeit einzuladen?

2) Um das zeitgenössische Repertoire medialer Praktiken in der Forschung zu entfalten, genügt es nicht, sich neben der fachwissenschaftlichen Arbeit Grundkenntnisse der Informatik anzueignen. Ja, Historiker und Philosophen sollen wissen, was die Computersprachen HTML und CSS regeln, wie Datenbanken im back-end und Benutzeroberflächen im front-end zusammenhängen, welche Formate einen Austausch von Daten erleichtern. Aber ist es ihre Angelegenheit, Programme zu entwickeln, Webseiten visuell zu gestalten? Nein, für diese Aufgaben gibt es Experten, Programmierer und Designer, mit denen Forscher eng zusammenarbeiten müssen. Das heißt, dass Digital Humanities nicht mit dem Typus des isolierten Gelehrten vereinbar sind, sondern Teamwork wie in naturwissenschaftlichen Laboren oder den darstellenden Künsten erfordern.

3) Digitale Humanisten pflegen das geisteswissenschaftliche Denken – die kostbaren Fähigkeiten, Begriffe zu bilden, die Gegenwart historisch zu beleuchten, das kulturelle Erbe zu bewahren. Sie ziehen sich aber nicht in Nischen zurück, sondern versuchen sich als Kuratoren des Wissens, die aus mannigfaltigen Bezügen konsistente Ensembles schaffen. Diese Werke sollen gründlich durchdacht und recherchiert sein, jedoch auch solide finanziert, kollektiv umgesetzt und multimedial veröffentlicht werden. Ihre Leiter müssen deshalb in der Lage sein, größere Forschungsprojekte zu organisieren und ihre Ergebnisse so verständlich wie möglich zu kommunizieren. Denn fern davon, sich nur in Fachsprachen an Experten zu richten, darf das Wissen der Digital Humanities unterhaltsam sein und Massen erreichen.

Der zweite Teil des Gastbeitrags von Simon Ganahl erscheint in einigen Tagen.

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