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Fünf Umrisse von Menschen, sie sind mit Zahlen ausgefüllt

Vom virtuellen Flanieren zur Textanalyse

Virtuelles Flanieren durch historische, längst veränderte Stätten; die Zusammenarbeit von Autor und Publikum; die Analyse riesiger Mengen an Literatur: All das ist durch die Digitalisierung der Geisteswissenschaften möglich geworden. Ein Überblick über einige erfolgreiche bzw. vielversprechende Projekte.

Digital Humanities 15.06.2015

Er stammt vom Germanisten Simon Ganahl: Im ersten Teil seines Gastbeitrags hat er vor einigen Tagen die theoretischen Grundlagen der "Digital Humanities" beschrieben.

Digital Humanities 2.0

Von Simon Ganahl

Der Germanist Simon Ganahl im Porträt

Simon Ganahl

Simon Ganahl ist Forschungsstipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (APART) und Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Zürich. 1981 in Bludenz geboren, studierte er Kommunikationswissenschaft und Germanistik in Wien, Hamburg und Zürich. Anfang 2015 erschien sein Buch "Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen" bei Konstanz University Press.

Literatur:

Todd Presner u. a.: HyperCities. Thick Mapping in the Digital Humanities. Cambridge, MA: Harvard University Press 2014.
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Übers. v. Gustav Roßler. Berlin: Suhrkamp 2014 [2012].
Franco Moretti: Distant Reading. New York: Verso 2013.

Zu den Pionieren der Digital Humanities 2.0 gehört der Germanist und Judaist Todd Presner, der an der University of California, Los Angeles (UCLA) eine Online-Plattform mit dem Titel HyperCities aufbaute. Das Projekt nutzt Google Maps, um reale Städte im Internet multimedial zu erweitern. Anfangs standen historische Studien im Vordergrund, bei denen gescannte Stadtpläne über die digitale Karte gelegt und mit Archivbildern, Film- oder Tonaufnahmen und 3-D-Modellen animiert werden.

HyperCities ermöglicht ein virtuelles Flanieren, das die Zeitschichten gegenwärtiger Orte auffächert. So lässt sich etwa die Ruine des Anhalter Bahnhofs rekonstruieren, wo ab 1942 tausende Juden ins KZ Theresienstadt transportiert wurden, oder herausfinden, dass der Berliner Stadtplan von 1936 die geografische Fläche nach Längen- und Breitengraden exakt abbildet, während in der DDR-Karte von 1977 Ostberlin systematisch vergrößert erscheint.

Zuletzt verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Archivierung aktueller Proteste. Von Juni 2009 bis Februar 2010 diente HyperCities zum Beispiel als Plattform, um die Aufstände gegen die iranischen Präsidentschaftswahlen in Teheran zu dokumentieren: Die teilweise minütlichen Einträge markieren die Orte der Erhebungen auf der digitalen Karte, beschreiben kurz das Geschehen und zeigen Fotos oder Videos der Demonstranten, die auf sozialen Netzwerken erschienen waren.

Geschichte, räumlich verstanden

2011 wurden sowohl Twitter-Nachrichten ägyptischer Protestanten in Echtzeit festgehalten als auch Texte und Bilder lokalisiert, die Betroffene des Tsunamis in Japan online verbreiteten. Alle Projektdaten können in der Keyhole Markup Language (KML), einem Standardformat für Geoinformationssysteme, heruntergeladen werden. Außerdem stehen der Quellcode der Datenbank sowie der Benutzeroberfläche von HyperCities im Internet zur freien Verfügung.

Digitale Humanisten wie Presner lassen sich nicht von der Informatik leiten, sondern gehen den geisteswissenschaftlichen Fragen nach, die unsere mediale Gegenwart aufwirft. In seinem Buch HyperCities, das 2014 bei Harvard University Press erschien, beschreibt er "thick mapping" als ein Verfahren, um der zielgerichteten Geschichtsschreibung zu entkommen. Wenn Geschichte konsequent räumlich verstanden wird, können Ereignisse nicht mehr logisch aufeinanderfolgen.

Orte verweisen auf Orte und spannen ein Beziehungsnetz auf, das mannigfaltige Verbindungen erlaubt, Möglichkeitsräume statt chronologischer Abfolgen. Methodisch ist HyperCities mit dem in alle Richtungen wuchernden Rhizom verwandt – einem Konzept von Gilles Deleuze und Félix Guatarri, das die Baumstruktur hierarchischer Wissensordnungen ersetzen soll.

Existenzweisen von Latour - auch im Internet

Während Presner noch humanistisch träumt, massenweise Biografien zu kartografieren, hat Bruno Latour die "übermenschlichen" Konsequenzen aus dem Rhizom gezogen. In einer Reihe von Studien über die Arbeit in naturwissenschaftlichen Laboren begann der französische Soziologe, Sachverhalte als Netzwerke aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu beschreiben. Seine Untersuchungen zeigten, dass Handlungen keine persönlichen Willensakte zugrunde liegen, sondern Gefüge darstellen, in denen Menschen und Dinge zusammenwirken: Schlüssel schließen Räume ab, Messer schneiden Brot, Seifen entfernen Schmutz usw.

Da in den vergangenen Jahren alles Mögliche als Akteur-Netzwerke versammelt wurde, entwickelt Latour sein Verfahren nun weiter, um die Wahrheitswerte zu analysieren, die sich in diesen heterogenen Ensembles ausdrücken. Was ist in den spezifischen Erfahrungen gegeben, welche die europäische Moderne herausbildete? So lautet die grundlegende Frage, die sein aktuelles Buch über die "Existenzweisen" behandelt.

Es stellt gleichsam eine provisorische Antwort dar, die seit ihrem Erscheinen kollektiv überarbeitet wird. Denn Latour hat mit einem Team aus Forschern, Programmierern und Designern eine Online-Plattform eingerichtet, wo Leser nach der Anmeldung sowohl auf den publizierten Text samt Anmerkungen und Glossar zugreifen als auch persönliche Notizen speichern können. Die Idee ist, die Kulturtechnik des "close reading" in Zeit und Raum zu erweitern, sodass die Diskussion nicht auf einen Seminarraum beschränkt bleibt. Erwünscht sind allerdings keine anonymen Kommentare, sondern ernsthafte Beiträge, die vor der Publikation auf der Webseite ein Begutachtungsverfahren durchlaufen. Werden die Ergänzungen oder Einwände von den Redakteuren akzeptiert, sollen sie unter Angabe der Autoren in die Neuauflage des Buchs einfließen.

Die aus dem Kanon Ausgeschlossenen

Man wird sehen, ob die finale Version von "Existenzweisen" als freies, gemeinschaftliches Werk herauskommt oder der Meister und seine Verleger die kreative Menge nur ausgebeutet haben werden. Eine Praxis, die sich als "crowdsourcing" in Unternehmen längst etabliert hat. Latour geht es mit seinem Experiment jedenfalls um einen Gegenentwurf zu den "distant readings", wie sie etwa Franco Moretti an seinem Literary Lab in Stanford durchführt.

Anstatt ausgewählte Schriften langsam und genau zu lesen, wertet der italienische Literaturwissenschaftler abertausende Texte aus, die es nicht in den Kanon schafften. Moretti ist ein Makroanalytiker, der die Literaturwissenschaft mithilfe des Computers zu einer quantitativen Disziplin umbauen will. Seine marxistische Haltung tritt in den Studien trotzdem deutlich zutage: einerseits in der betonten Freude am kollektiven und transparenten Forschen, anderseits in den Ergebnissen, die der Vorstellung zuwiderlaufen, dass die Literaturgeschichte von einzelnen Autorengenies vorangetrieben wird. Allerdings teilt Moretti mit seinen Kollegen, die objektiver auftreten, den Standpunkt, wonach die Fakten der Makroanalysen härter seien als die Interpretationen traditioneller Geisteswissenschaftler.

Und so hegen wir den frommen Wunsch, dass jene digitalen Humanisten, die künftig in Österreich forschen werden, ganz menschlich, allzu menschlich bleiben. Der Computer beflügelt nämlich den Geist, trägt ihn aus dem Bürofenster bis in den Himmel, wo sich die großen Zusammenhänge überblicken lassen, die – einmal erkannt – keinen Raum für Diskussionen mehr lassen. Wer sollte an den Kulturgesetzen zweifeln? Die Maschinen dringen zu den letzten Dingen vor. Unsere digitalen Humanisten verweilen hoffentlich bei den vorletzten, um von den Nahaufnahmen, wie es bei Siegfried Kracauer heißt, "beiläufig über das Ganze zu schwenken".

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