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Angela Merkel steht vor Alexis Tsipras, er zieht die Mundwinkel nach unten, rechts Hollande

"Das war rohe Machtpolitik"

Die Macht der Schulden bekommt derzeit vor allem Griechenland zu spüren. Das Hauptproblem dabei: Profitinteressen treffen auf Interessen des Gemeinwohls, meint der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl. Bei den nun beschlossenen Reformmaßnahmen gehe es nicht mehr um Ökonomie, sondern um "rohe Machtpolitik" - und um die Probe eines Staatsstreichs.

Interview Teil II 14.07.2015

Im ersten Teil eines science.ORF.at-Interviews hat Vogl den historischen Einfluss der Finanzwelt auf scheinbar souveräne Staaten beschrieben. Im folgenden zweiten Teil skizziert er, wie sich das aktuell auf Griechenland auswirkt und wo mögliche Auswege aus der gesellschaftlichen Krise liegen.

science.ORF.at: Was sagen Schulden über Machtverhältnisse?

Joseph Vogl: Schulden definieren ja bereits ein gewisses Machtverhältnis. Sie stellen Verbindlichkeiten her und bauen Verpflichtungen auf. Auf der einen Seite ist das eine eminent produktive Angelegenheit, denn über Schulden und über Kredit kann man Kräfte der Zukunft in der Gegenwart aktivieren. Sie sind eine überaus artistische Erfindung - man kann aus Nichts Etwas schöpfen und dieses Etwas in der Gegenwart wirksam werden lassen.

Auf der anderen Seite kann man natürlich danach fragen, wann solche Verbindlichkeitsstrukturen kippen oder in politischer Hinsicht pathologisch werden. Und das passiert in Konstellationen, wo völlig unvereinbare Posten gegeneinander gestellt werden, z.B. auf der einen Seite private Profitinteressen und auf der anderen Seite das, was man Gemeinwohlinteressen nennen könnte.

Das ist im Augenblick die kritische Konstellation: Der Kreislauf von Staatsschulden und Kredit bringt zwei völlig ungleiche Dinge zusammen und erzeugt dadurch eminente Reibung. Die einen reklamieren Gemeinwohlinteressen - wie die Finanzierung von öffentlichen Infrastrukturen, sozialen Sicherungssystemen, etc. Die anderen pochen auf Gläubigerinteressen und Profit.

Porträtbild des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl

CC BY-SA 3.0 -Dontworry

Joseph Vogl ist Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler und Philosoph, lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Permanent Visiting Professor am Department of German der Princeton University. 2010 erschien sein Buch "Das Gespenst des Kapitals", in dem er sich erstmals intensiv mit der ökonomischen Gesellschaftsstruktur beschäftigt hat. 2015 ist ein weiteres Werk zum Thema erschienen, "Der Souveränitätseffekt". Vogl war Gast einer Konferenz zu Verteilungsgerechtigkeit am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM).

Zur aktuellen politischen und ökonomischen Lage, Beispiel Griechenland: Es scheint ja alles recht verfahren, alle wirken wie gefesselt in starren Mechanismen - was kann man also tun?

Ich glaube, die Situation ist gar nicht so kompliziert, zumindest intellektuell betrachtet. Es geht um die relativ einfache Frage: Wer zahlt in letzter Konsequenz? Wie werden die Schuldenlasten verteilt? Wie wird das Abhängigkeitsverhältnis genutzt? Politisch allerdings ist die Situation unübersichtlich geworden - auch vor dem Hintergrund des Agierens der Gläubigerinstitutionen.

Man darf nicht vergessen, dass für Griechenland 2010/11 nicht nur durch die langjährige Schuldenpolitik, sondern vor allem auch durch die Banken- und Finanzkrise von 2008/9 der Staatsbankrott unmittelbar bevorstand. Damals haben selbst Institutionen wie der IWF gefordert, das Ganze über einen Schuldenschnitt zu lösen. Das wurde auf Druck von deutscher und französischer Regierung und nach massiven Interventionen der Nordbanken verhindert bzw. verschoben.

Aber auch das war vorerst kein Problem. Denn Staatsschulden versprechen erfreuliche Renditen für die Investoren. Überraschend oder ökonomisch schwer nachvollziehbar waren dann die Auflagen der europäischen Institutionen: Wie ist man auf die Idee gekommen, den Schuldner bzw. das Wirtstier mit ein paar Reformen in wenigen Jahren zu ruinieren? War es Ideologie und die neoliberale Doktrin, die in den Gründungsakten des Euroraums festgeschrieben ist und die man seit den 1980er Jahren mit den Austeritätsprogrammen an Entwicklungs- und Schwellenländern erprobte? Hat man also auf die Einhaltung von Prinzipien gepocht und war schlicht ahnungslos hinsichtlich ökonomischer und wirtschaftspolitischer Konsequenzen? Außerhalb Europas hat das einige Ratlosigkeit erzeugt.

Ich vermute, das hängt auch ein wenig damit zusammen, dass man jetzt, seit einigen Monaten in Europa einen Fremdkörper entdeckt hat, nämlich eine linke Regierung, die sich nicht ins Bild des gelehrigen Schuldners fügte. Diese hat ja deutlich gemacht, dass man die Reformauflagen nicht bloß als Verfahrenstechnik, sondern als eminent politisches Diktat begreifen kann. Und dass man zudem einige Grundregeln der europäischen Wirtschafts- und Geldpolitik anzweifeln möchte: etwa mit der Forderung nach einer europäischen Schuldenkonferenz. Da war man sich unter den Europartnern schnell einig: So etwas kommt nicht infrage.

Es sieht aber so aus, als würde in diesem Fall die politische Macht (und keine ökonomische) die Oberhand behalten wollen?

Ja, ich glaube schon. Deutschland ist ein gutes Beispiel, aber alle singen ja irgendwie im Konzert mit. Nehmen Sie die baltischen Staaten, die schon alles hinter sich haben und dabei glauben, bei ihnen sei alles gut gegangen - auch wenn die Löhne und Renten drastisch gesunken sind und manche Staaten bis zu einem Achtel ihrer Bevölkerung verloren haben. Die litauische Präsidentin, eine glühende Bewunderin Margaret Thatchers, sagte das ganz direkt: Das ganze Programm muss sich ja gelohnt haben, Alternativen kommen nicht infrage. Damit wurde Griechenland zu einem exemplarischen, umkämpften Fall.

Völlig erratisch ist in den letzten Tagen die Strategie der Europartner und insbesondere der deutschen Regierung geworden. Ging es denen um den definitiven Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone, um die restlose Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftsreformen, um die Vernichtung der gegenwärtigen griechischen Regierung, um die Bedienung des aufgeheizten innenpolitischen deutschen Klimas, um die Disziplinierung von kompromissbereiten Ländern wie Frankreich und Italien?

In einer Sache jedenfalls hat die augenblickliche Situation den Vorzug der Eindeutigkeit: Es handelt sich nicht mehr um die ökonomische Effizienz dieser oder jener Reformmaßnahmen, sondern um rohe Machtpolitik. Was sich jetzt als "Einigung" abzeichnet, fasst die politische Logik der europäischen Krisenpolitik perfekt zusammen: Das Konsortium aus Gläubigerinteressen, Finanzregime und Politik hat nun den Staatsstreich gegen Griechenland geprobt.

Offenbar siegt die kapitalistische Weltordnung selbst dort, wo sie unvernünftig erscheint. Was kann man da tun?

Wahrscheinlich sollte man vorsichtig sein mit den Begriffen von Vernunft und Unvernunft. Ökonomische Vernunft hängt von der Perspektive ab und damit von der Frage, wem was unter welchen Bedingungen nutzt. Was für dreißig bis vierzig Prozent der Leute höchst unsinnig erscheint (weil die Kaufkraft geschwunden ist oder das Geld nicht zum Überleben reicht), erweist sich für andere ein bis fünf Prozent der Leute als Angelegenheit höchster Logik und Vernunft. Selbst in den griechischen Krisenzeiten hat es noch solche überaus folgerichtigen Umverteilungsprozesse gegeben.

Über lange Zeit - die gesamte Nachkriegszeit seit 1945 bis weit in die 70er Jahre - gab es etwas, was manche Soziologen einen Wohlfahrtskompromiss nennen. D.h., vor dem Hintergrund der Erfahrungen der 30er Jahre, der Wirtschafts- und Geldkrisen, Inflation, etc. und der Konsequenzen daraus, wie etwa den deutschen Nationalsozialismus, ist man übereingekommen, dass das Überleben des Kapitalismus bzw. eines marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystem nur unter bestimmten Einschränkungen möglich sei, z.B. einer starken Sozialpolitik - das, was man den Sozialstaat oder in Deutschland die soziale Marktwirtschaft genannt hat.

Spätestens seit den 80er Jahren, wahrscheinlich seit Thatcher und Reagan, stellt man fest, dass dieses System auch ganz gut weiterleben kann, wenn es Elend produziert, und zwar auch im eigenen Land. Es kann sogar weiterleben, wenn man moderne Industriestaaten wie etwa Großbritannien deindustrialisiert, selbst da gibt es noch ein Wirtschaftswachstum, z.B. in der Finanzökonomie. Die Berater der Thatcher-Regierung nannten das „managed decline“. Plötzlich merkte man, dieses System lässt sehr viel mehr Elendstoleranz zu. Das führte dazu, dass man schrittweise diesen Wohlfahrtskompromiss auf den verschiedensten Gebieten aufgekündigt hat. Diesem Prozess wohnen wir nach wie vor bei. Und der Gegenbeweis ist noch nicht angetreten. Das System ist noch nicht implodiert oder explodiert, es geht nicht an seinen Spannungen und Widersprüchen zugrunde, sondern tritt in die nächste Akkumulationsphase ein.

Gehen Marktwirtschaft und Verteilungsgerechtigkeit überhaupt zusammen?

Nein. Was man Kapitalismus nennt, war nie an Verteilungsgerechtigkeit interessiert. Dafür waren eher politische Korrektive nötig. Zurzeit wohnen wir in dem Prozess einer beeindruckenden Produktion von Ungleichheit bei. Und das heißt, dass mit der Erosion ökonomischer Teilhabe – die Prekarisierung von Arbeit, Minijobber, Ein-Euro-Jobber oder Arbeitslose – auch die politische Partizipation erodiert. In Deutschland reagiert ein Gutteil dieser Leute durchaus realistisch: Sie sehen sich politisch nicht mehr repräsentiert und gehen einfach nicht mehr zur Wahl. Für sie sind nur noch Wohlfahrtsverbände zuständig.

Wenn das stimmt, dann befinden wir uns aber nicht nur einer wirtschaftlichen, sondern auch in einer demokratiepolitischen Krise?

Offensichtlich. Manche Politiker vergießen darüber Krokodilstränen und nennen es etwas ratlos Politikverdrossenheit. Etwas realistischer gefasst heißt das: Wer seine Interessen nicht oder nur negativ vertreten sieht, bleibt der Veranstaltung fern. Und das war ja durchaus Kalkül: Man hat in den letzten Jahrzehnten ganz konsequent Solidaritätsreservate liquidiert.

Was könnte die Lösung sein? Kapitalismus abschaffen?

Ach, diese Lösungen und Abschaffungen, es redet sich so leicht. Aber vielleicht lohnt sich ein Blick auf die Schauplätze, in denen sich Widerstand formiert (sicher nicht in Österreich oder Deutschland). Das geschieht einerseits, wie so häufig, vor allem an der Peripherie. Über Griechenland haben wir bereits geredet. Denken Sie auch an Schauplätze, wo politische Organisationen unter völlig neuen Bedingungen entstehen, wie etwa Podemos in Spanien. Sie kommen von außerparteilichen, ganz konkreten lebensweltlichen Fragen in die Politik.

Andererseits gibt es noch einen weiteren Bereich, der politisch relevant sein könnte - das sind insbesondere in Deutschland die hochverschuldeten Kommunen, eine Art inneres Griechenland. Inzwischen haben Leute quer durch die Bevölkerungsschichten bemerkt, dass öffentliche Infrastrukturen kollabieren, Innenstädte veröden, Stadtwerke verscherbelt werden, ganze Bezirke unbewohnbar oder Wohnungen unbezahlbar sind. Das sind politische Ressourcen, und es gibt Anzeichen und Beispiele, dass solche lebensweltliche Desaster zu politischen Mobilisierungen führen.

/Eine Veränderung kann also keine systematische sein, sondern kann sich nur anhand von vielen Einzelproblemen nach oben durchschlagen. Aber kann das so einsickern, dass sich so etwas wie ein Systemwechsel oder -verschiebung der ökonomischen Weltordnung daraus ergibt?

Man hat einmal gesagt, heute könne man sich eher den Weltuntergang als das Ende des Kapitalismus vorstellen. Wahrscheinlich ist es so. Unsere politische Einbildungskraft ist recht sklerotisch geworden. Vielleicht sitzt man aber auch einem Irrtum auf und glaubt, man brauche große Visionen, um ein paar kleine Aktionen zu bewerkstelligen. Vielleicht ist es umgekehrt: Man rafft sich auf, sammelt die Einsprüche, nimmt die eine oder andere Sache in die Hand, und im Handeln stellen sich gute und bessere Ideen zur politischen Fortbewegung dann schon ein.

Es bleibt also ein Durchmanövrieren und Ausprobieren?

Ja, in gewisser Weise ist es zunächst ein "Weiterwurschteln". Aber es gibt einen Punkt, warum die Zeit, in der wir leben, sehr interessant ist, verbunden mit einer fast stationären wirtschaftlichen Krise, der wir nun schon seit acht Jahren beiwohnen, gibt es auch eine intellektuelle Krise - das ist ein intellektueller Glücksfall. Im Augenblick sind sehr viele Kategorien, mit denen man das Geschehen zu erfassen versucht, selbst in Frage gestellt.

Was ist eigentlich Wirtschaftswachstum? Kann man noch von Wirtschaftswachstum sprechen, wenn es bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht ankommt? Kann man Geldpolitik von wirtschaftspolitischen Interventionen lösen? All diese Selbstverständlichkeiten sind im Augenblick überaus umstritten. Wir haben also auch eine Krise des Wissens und der Kategorien, mit denen man die gegenwärtigen Krisen der Finanz, der Wirtschaft, des Regierens überhaupt beschreiben und erfassen könnte. Da werden die Karten gerade neu gemischt, aber sie sind noch nicht verteilt.

Es ist also ungewiss, was auf uns zukommt?

Ja. Man sollte sich in einer – auch intellektuellen – Artistik im Umgang mit Ungewissheiten, Unsicherheiten und unerwarteten Ausgängen üben.

Das gilt für alle?

Ja, so wie es für griechische Städtebewohner gilt, die plötzlich umschulen und Landwirte werden.

Interview: Eva Obermüller, science.ORF.at

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