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Ausschnitt eines Plakats von Adolf Friedländer zur Ausstattungspantomime Katharina II. von Russland, 1904

Geschichtsschreibung in der Manege

Napoleon, Othello und die Nibelungen haben eines gemeinsam: Sie waren Hauptfiguren pantomimischer Schaustücke, die ab dem 18. Jahrhundert in den Zirkussen Europas ein großes Publikum anzogen. Die Aufführungen mischten historische Informationen mit Unterhaltung - und waren damit eine Art Vorgänger des heutigen "histotainment".

Kulturwissenschaft 29.06.2015

Wie sich diese "Geschichtserzählung im Zirkus" entwickelt hat, beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Katalin Teller in einem Gastbeitrag.

Zwischen Nationalismus und Verharmlosung

Von Katalin Teller

Porträtfoto von Katalin Teller

IFK

Über die Autorin:

Katalin Teller ist Professorin am Lehrstuhl für Ästhetik an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest und derzeit IFK_Gast des Direktors Fellow in Wien.
Publikationen (u. a.): Raffinierte Machwerke chauvinistisch-militaristischer Propaganda. Geschichtsschreibung und historische Ausstattungsstücke im Zirkus Busch, in: Werner Michael Schwarz und Ingo Zechner (Hg.), Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift für Siegfried Mattl, Wien und Berlin 2014, S. 77–85.

Veranstaltungshinweis:

Am 29. 6. hält Katalin Teller einen Vortrag mit dem Titel "Zirkuspantomimen zwischen Geschichte und Mythus".

Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17,
1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.

Programmheft Zirkus Busch zum Manegeschaustück Fridericus. Der Philosoph von Sanssouci, 1924

IFK - Katalina Teller

Programmheft Zirkus Busch zum Manegeschaustück Fridericus. Der Philosoph von Sanssouci, 1924

Zirkuspantomimen galten ab der ersten Stunde des neuzeitlichen europäischen Zirkus als feste Bestandteile der Aufführungen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit konnten die BesucherInnen jeweils im zweiten Programmteil in den Genuss der aufwendig und ausgeklügelt gestalteten Stücke kommen.

Die ersten Aufführungen, die unter Bezeichnungen wie "heroische Pantomimen", Mimodramen, später Ausstattungsmelodramen und Manegeschaustücke firmierten, lehnten sich noch an die Tradition der Commedia dell’arte und der Harlekinaden an und waren oft dem Genre des Balletts verpflichtet. Diese wurden aber bereits früh mit Pferdedressur und akrobatischen Elementen sowie mit Wildtierdressur und gesprochenen oder gesungenen Parts angereichert.

Friedrich der Große im Wasser

Die größeren Zirkusunternehmen boten dem zeitgenössischen Publikum ein breites Spektrum an Stoffen: Diese konnten von der Geschichte Napoleons und der Kaiser Friedrich I. oder II. über allerlei Märchen- und Operettenbearbeitungen bis hin zu tagespolitischen Aktualitäten reichen, die nicht selten zum Gegenstand von internationalem Tauschhandel in Europa und den USA wurden.

So machte bspw. die Geschichte des Kosakenanführers Mazeppa von Moskau bis Paris eine Jahrzehnte lange Karriere, dasselbe galt für die klassischen Märchen wie Aschenbrödel und Schneewittchen oder auch für antike Stoffe wie Ben Hur oder Aphrodite.

Besonders beliebt waren ab den 1880er Jahren die Wasserpantomimen, auf die sich praktisch alle historischen, fiktiven oder landeskundlichen Sujets adaptieren ließen: So konnte man in den 1910er und 1930er (und erneut ab den 1980er) Jahren das Stück mit einer eher zusammenhangslosen Handlung "Circus unter (oder im) Wasser" von den unterschiedlichsten Zirkussen erleben, oder 1925 "Breslau unter Wasser" mit Friedrich dem Großen in viertausend Hektoliter Wasser aufgeführt sehen.

Bis zu 2.500 Zuschauer pro Abend

Für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung ist diese Form der Massenunterhaltung mehrfach von Interesse. Neben zahlreichen kultur- und stadtsoziologischen Fragestellungen können die Pantomimen für eine engere zirkus- und mediengeschichtliche Betrachtung herangezogen werden: Bis zur Etablierung des Fernsehens erwiesen sie sich nämlich gegenüber dem Theater, später dem Varieté und dem Kino als ein äußerst widerstands- und konkurrenzfähiges Programmelement, wobei sie reichlich aus dem Inventar dieser Gattungen schöpften.

Die größeren deutschen Zirkusunternehmen unterhielten ab den 1870er Jahren in Deutschland jeweils etwa 1.700 bis 2.500 ZuschauerInnen allabendlich mit diesen Stücken, aber auch die in Wien tätigen Truppen von Renz und Busch zogen Massen an. Die billigste Eintrittskarte im Jahr 1912 in Deutschland kostete bei einem Durchschnittslohn von ca. 1.100 Mark meistens 50 Pfennig, heute etwa zwei Euro.

Kritik an nationalistischen Inhalten …

Auffallend ist jedoch dabei, dass gerade die angesehenen Zirkushistoriker (wie Kusnecov, Günther u.a.) die Ausstattungsstücke aufs heftigste mit dem Argument ablehnten, diese seien genrefremde und ideologisch belastete Attraktionen gewesen: Die Pantomimen hätten nämlich nicht nur der klassischen Nummernstruktur des Zirkus widersprochen, sondern waren durch die Erzählung von Heldentaten von Herrschern auch dazu geeignet, imperialistisches und kolonialistische Gedankengut sowie falsches, nationalistisch angehauchtes historisches Bewusstsein zu vermitteln.

Eine durch dieses pauschale Argument bedingte Irritation kann aber die Kulturwissenschaften dazu veranlassen, die historischen Pantomimen mit Blick auf die Logik der Popularkultur und auf jene des historischen Erzählens hin zu überprüfen.

Die Stücke changierten nämlich sehr gekonnt zwischen unterschiedlichen Strategien: Einerseits generierten sie historisches Wissen, indem sie einzelne Kapitel aus der älteren und (nicht nur) nationalen Geschichte in die Manege und vor ein Publikum brachten, das über diese Inhalte womöglich erst hier aufgeklärt wurde. Dabei griffen sie auf die Darstellungstechniken der Panoramen, der illustrierten Geschichtsbücher ebenso zurück wie auf jene der Historienmalerei und der pompös inszenierten Geschichtsdramen.

Lithografiertes Plakat von Adolf Friedländer zur Ausstattungspantomime Katharina II. von Russland, 1904

IFK - Katalina Teller

Lithografiertes Plakat von Adolf Friedländer zur Ausstattungspantomime Katharina II. von Russland, 1904

… aber gemeinsame "Geschichtsstars" auf allen Seiten

Andererseits aber versahen sie die ausgewählten Stoffe mit einem recht paradoxen Charakterzug: Die tagespolitisch-national geprägten Inhalte konnten nämlich jeweils nach Aufführungsort und -zeit eine bewundernswerte Flexibilität aufweisen.

Themen und Figuren wie die napoleonischen Kriege, Othello, die Nibelungen, Fra Diavolo u.v.m. konnten über mehr als hundert Jahre hindurch in den einander gegenüber feindlich eingestellten Ländern wie Frankreich und Deutschland oder Österreich-Ungarn und Russland als Dauerschlager gelten. Der Grund für diese Flexibilität liegt wohl in der Fokussierung auf die Stars der Weltgeschichte, d.h. in der "biografischen Mode" (Leo Löwenthal), die diese Geschichten gleichsam in zeitlose und mythische Inhalte transformierte.

Die scheinbare Immunität gegenüber dem jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Kontext, die Orientierung an der Starqualität der geschichtlichen Persönlichkeiten und die gleichzeitigen sanften Anpassungen mit Lokalkolorit bedingten, dass die Pantomimen massenhaft genossen, aber mitunter auch für ideologische Manipulation ausgenutzt werden konnten.

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