Ist Österreich in Europa angekommen?
Von Heidemarie Uhl
Der 8. Mai gilt in Europa – seit 1985 auch in der Bundesrepublik Deutschland – als Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In Österreich war dieses Datum bis vor wenigen Jahren kaum präsent.

APA - Robert Jäger
Heidemarie Uhl ist Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Gastbeiträge von Heidemarie Uhl:
Der 8. Mai stand im Schatten zweier Gedenktage, die unterschiedlich intensiv im Geschichtsbewusstsein der Zweiten Republik verankert waren: dem 27. April 1945, an dem die provisorische Regierung unter Staatskanzler Karl Renner die Unabhängigkeit Österreichs von Deutschen Reich erklärte und damit die Republik Österreich wiederbegründete, und dem 15. Mai 1955, dem Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrags im Oberen Belvedere.
Ein Satz prägt das Land: "Österreich ist frei"
Obwohl der 27. April nicht nur die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sondern auch das Ende des NS-Terrors bedeutet, blieb er ein blasser Gedenktag.
Der 15. Mai 1955, die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität, wurde zum eigentlichen symbolischen Gründungsereignis der Zweiten Republik – nicht zuletzt durch die emotional aufgeladene Berichterstattung in der Austria Wochenschau, durch die die Balkonszene, unterlegt mit der Tonspur von Leopold Figls "Österreich ist frei", zur visuellen Ikone des neuen Österreich wurde.
Die medienwirksame Verknüpfung von "Freiheit" mit "Staatsvertrag" hat sich tief in das Geschichtsbewusstsein eingeprägt: Das zeigt das Ergebnis einer Meinungsumfrage im Jahr 1998. Auf die Frage, auf welches Ereignis der Vergangenheit man als Österreicher/in besonders stolz sein könne, nannten 20 Prozent der Befragten den Staatsvertrag – das weitaus am besten bewertetet Ereignis der österreichischen Zeitgeschichte. Die Gründung der Republik Österreich im Jahr 1945 wurde nur von einem Prozent der Befragten genannt – der schlechteste Wert in dieser Umfrage.
Befreier wurden zu Besatzern
In den ersten Nachkriegsjahren standen allerdings das Bewusstsein für die Bedeutung der Befreiung von der NS-Herrschaft und die Würdigung des Widerstands im Vordergrund. Mit Beginn des Kalten Krieges und der Re-Integration der ehemaligen Nationalsozialisten verband sich ein Paradigmenwechsel: Antifaschismus wurde weitgehend durch Antikommunismus ersetzt.
ASSOCIATED PRESS
Das lässt sich am deutlichsten an den Denkmalsetzungen ablesen: Nach Kriegende geplante Denkmäler für den Widerstand in Wien, Graz und an anderen Orten wurden nicht realisiert, diese Denkmäler galten als "Instrumente kommunistischer Propaganda". Wenige Jahre nach Kriegsende wurde "Befreiung" zu einem Begriff, der praktisch nur noch in der Terminologie der Kommunistischen Partei ohne Anführungszeichen verwendet wurde – die Befreier wurden zu Besatzern.
Es gibt noch eine weitere österreichische Besonderheit: Nach Abschluss des Staatsvertrags wurde "1945" durch "1955" überschrieben. Während die europäischen Länder das Kriegsende bzw. den Sieg über den Nationalsozialismus feierten, während die Bundesrepublik Deutschland sich am Tag der Kapitulation mit ihrer belasteten Vergangenheit auseinandersetzte, feierte Österreich seinen - nicht zuletzt durch (angebliche) Trinkfestigkeit errungenen - diplomatischen Sieg über die Besatzungsmächte, so die wirkungsmächtige Legende.
Der Staatsvertrag sei das Ende eines "siebzehn Jahre lang dauernden, dornenvollen Wegs der Unfreiheit", erklärte Außenminister Leopold Figl 1955. In der Gleichsetzung der NS-Herrschaft 1938 bis 1945 mit der Besetzungszeit 1945 bis 1955 bedeutete 1945 keine Zäsur, keine Befreiung.
Doppelte Opferthese
Ganz im Gegenteil: Das Geschichtsbild der Zweiten Republik, wie wir es in Schul-Lehrbüchern, Bildbänden, Ausstellungen, TV- und Zeitungs-Reportagen finden, zeigt 1945 als dunkle Zeit des Leidens unter den Auswirkungen des Krieges, geprägt von Lebensmittelknappheit und Übergriffen auf die Zivilbevölkerung.

ASSOCIATED PRESS
Der entsprechende Bilderkanon zeigt Bombenschäden, das Alltagsleben in Ruinen, Trümmerfrauen und Heimkehrer. Zur Ikone des Jahres 1945 wurde der ausgebrannte Stephansdom, zumeist – und zu Unrecht – als bombenzerstört assoziiert, tatsächlich wurde der Dachstuhl durch Funkenflug von umliegenden Häusern, die bei Plünderungen in Brand gesetzt wurden, entfacht.
Mit 1945 verband sich somit eine zweite, womöglich wirkungsmächtigere Opferthese: Die Österreicher/innen erscheinen darin nicht – wie 1938 – als Opfer des Nationalsozialismus, sondern vielmehr als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus.
Offizielles Bekenntnis: "Befreiung von Diktatur"
Paradoxerweise waren es die Kranzniederlegungen deutschnationaler Burschenschaften in der Krypta des Heldendenkmals, die den 8. Mai wieder in den Blickpunkt rücken sollten. Seit 2013 wird dieser Tag als "Tag der Freude" am Heldenplatz begangen. Das Gedenkjahr 2015 wurde zum Anlass, um auf offizieller Ebene die Haltung Österreichs zu diesem Datum zum Ausdruck zu bringen.
Im Staatsakt zum 70. Jahrestag der Begründung der Zweiten Republik sprach Bundespräsident Heinz Fischer den "Streit über die Frage (…), ob Österreich 1945 tatsächlich befreit wurde, oder ob es nicht eher aus der Unfreiheit in Großdeutschland in die Unfreiheit durch die Besatzungsmächte geraten ist?" an.
Auch wenn es in der Besatzungszeit Übergriffe, Menschenrechtsverletzungen und Willkürakte gegeben hat: "Die klare Antwort lautet wie folgt: Österreich ist 1945 von einer unmenschlichen verbrecherischen Diktatur befreit worden".
Dass bei diesem Staatsakt der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck als Ehrengast eine Rede hielt, ist zudem ein bemerkenswerter Indikator für die Entkrampfung des Verhältnisses zu Deutschland: Die Abgrenzung zum "großen Nachbarn" war ein Grundmotiv im österreichischen nation building nach 1945. Das bezog sich vor allem auch auf die Frage der Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus, für die das "preußisch-militaristische" Deutschland verantwortlich gemacht wurde.
Museale Zurückhaltung
2015 stand erstmals in einem 5er-Jahr nicht wie bislang das Staatsvertrags-Jubiläum im Vordergrund. Die damit bewirkte Überschreibung des Jahres 1945 hatte entscheidend zur Ausblendung der österreichischen Verstrickung in den Nationalsozialismus beigetragen. Die eindeutige Position zu 1945 als Befreiung vom NS-Regime beschränkt sich allerdings weitgehend auf offizielle Erklärungen, eine Verankerung im kollektiven Geschichtsbewusstsein ist weitgehend ausgeblieben.
Ausstellungen wie "41 Tage. Kriegsende 1945 – Verdichtung der Gewalt" (noch bis 3. Juli in Wien und ab 13. Oktober in Graz zu sehen) oder "1945. Zurück in die Zukunft" (nach der Nationalbibliothek nun in der Oberösterreichischen Landesbibliothek gezeigt) können zwar auf beachtliche Besucherzahlen verweisen, zugleich machen sie sichtbar, dass sich die großen Museen (mit Ausnahme von Linz) am Gedenkjahr 2015/1945 praktisch nicht beteiligt haben.
Gerade hier erweist sich, wie notwendig ein Haus der Geschichte Österreichs ist: als Ort des Ausverhandelns, der Reflexion und Diskussion über die historische Identität Österreichs, als Ort, der über die nationale Selbstbespiegelung hinausgeht und Österreich in den europäischen und internationalen Debatten um Vergangenheit und Zukunft verankert.
Mehr zu diesem Thema: