Jährliches Hasardspiel
Die Studie in "mBio":
"An Intranasal Virus-Like Particle Vaccine Broadly Protects Mice from Multiple Subtypes of Influenza A Virus" von Louis M. Schwartzman et al., erschienen am 21. Juli 2015.
Ö1 Sendungshinweis:
Darüber berichtet auch Wissen aktuell am 22.7. um 13:55.
Der nächste Winter kommt bestimmt, und mit ihm die echte Grippe - eine im Vergleich zu harmlosen grippalen Infekten im Ernstfall lebensbedrohliche Krankheit, weswegen älteren und immungeschwächten Personen dringend zur Impfung geraten wird. Wie heftig eine Grippewelle letztlich ausfällt, hängt nicht zuletzt mit dieser Immunisierung zusammen. Sprich: Je wirksamer der verabreichte Wirkstoff, umso weniger Menschen werden krank. Das zeigt auch ein Blick auf die vergangene Saison: Der Impfstoff wirkte viel schwächer als erhofft. Deswegen verbreiteten sich die Viren in Österreich sowie im restlichen Europa so weit wie seit Jahren nicht.
Die Zusammensetzung des immunisierenden Präparats ist nämlich ein jährliches Hasardspiel. Denn kaum ein Virus ist so wandelbar wie Grippeerreger. Das Influenza-Virus ist ein sogenanntes RNA-Virus. Diese haben eines gemeinsam, wie Herwig Kollaritsch von der Medizinischen Universität Wien gegenüber science.ORF.at erklärt: "Sie sind bei ihrer Reproduktion derart schlampig, dass sobald sich ein Virus reproduziert, ein ganzer Schwarm von neuen Influenza-Viren entsteht, weil sie alle kleine Fehler in ihrer genetischen Information haben. Ständig zirkulieren daher neue Viren, das ist wie bei einem Zufallsgenerator oder beim Würfelspiel."
Immunsystem wird ausgetrickst
Diese Schlampigkeit verwandelt eine der größten Stärken unseres Immunsystems in eine Schwäche. Denn es kämpft so spezifisch, dass es unter Hundertausenden Erregern einen einzigen erkennt. "Aber wehe, er schaut ein bisschen anders aus. Dann ist das Immunsystem aufgeschmissen", so Kollaritsch.
Die Wandelbarkeit ist für Viren also eine nützliche Überlebensstrategie, mit der sie das Immunsystem austricksen. Der Mediziner erklärt die Konsequenzen: Man könne noch so viele Quasispezies in ein Präparat hineinpacken - die Natur bzw. die Verwandlung des Virus ist immer schon ein Schritt weiter. Man käme mit dem Mischen nicht nach. Deswegen stimmen die jetzigen Impfstoffe nie zu hundert Prozent mit den Erregern überein, die dann tatsächlich zirkulieren.
Welche Virenstämme im saisonalen Impfstoff landen, entscheidet die WHO. Sie besitzt ein weltweites Netzwerk, dessen Labors regelmäßig melden, welche Stämme zirkulieren. Aus diesen werden dann jene herausgefischt, die die größten Ausbreitungspotenziale haben. "Das haut meistens auch ganz gut hin, aber man ist nie vor Überraschungen sicher", betont Kollaritsch.
Wirksamer Cocktail
Trotz seiner Wandelbarkeit suchen Forscher seit Jahren nach Wegen, den trickreichen Influenza-Viren endgültig das Handwerk zu legen, bis jetzt mit mäßigem Erfolg. Eine vergleichsweise simple Strategie beschreiben nun die Wissenschaftler um Jeffrey Taubenberger vom National Institute of Allergy an Infectious Diseases (NIAID) in ihrer aktuellen Arbeit.
Dabei versuchten sie gar nicht erst, den Wirkstoff an die konkrete Virus-Variante anzupassen. Der Cocktail enthält lediglich vier Subtypen eines Oberflächenproteins des Influenza-Virus, nämlich von Hämagglutinin: H1, H3, H5 und H7. Insgesamt 16 Subtypen sind die Basis aller vergangenen und zukünftigen Pandemien, erklärt Taubenberger in einer Aussendung der American Society for Microbiology. "H1 und H3 waren die wichtigsten Verursacher der saisonalen Grippe seit 1918, H5 und H7 waren bei den Vogelgrippe-Ausbrüchen in der jüngeren Vergangenheit entscheidend", wie Taubenberger die konkrete Auswahl erklärt. Die viralen Proteine sollen einen sogenannten Kreuzschutz begünstigen. D.h., sie sollen auch gegen Viren wirken, die nicht direkt in der Impfung enthalten sind.
Zumindest im Mausversuch ist die Rechnung den Forschern zufolge aufgegangen. 95 Prozent der mit dem neuen Präparat behandelten Tiere waren gegen acht gefährliche Erregerstämme, darunter sieben Influenza A-Subtypen immun. "Die Mäuse überlebten auch den Kontakt mit Hämagglutinin-Subtypen, die nicht im Impfstoff enthalten waren", so Taubenberger.
Schwer kalkulierbar
Kollaritsch jedoch bezweifelt, dass sich die Methode mühelos auf den Menschen übertragen lässt. Die Auswahl der Subtypen sei sinnvoll und die Idee sicher nicht schlecht. "Aber wir sind noch weit entfernt vom Humansystem", so der Mediziner.
"Außerdem denke ich, dass der Effekt einer Kreuz-Protektion, selbst wenn man mit mehreren Hämogglutinin-Subtypen immunisiert, überschaubar bleibt." Denn diese sei schon jetzt schwer vorhersehbar. Ein Virus könne genetisch schon sehr weit vom Impfstoff entfernt sein und trotzdem bietet dieser noch einen Schutz. Aber auch das Gegenteil könne der Fall sein, das hänge vor allem von der Art der viralen Veränderungen ab.
Dass man diese und andere schwer kalkulierbar Probleme durch das simple Zusammenmischen verschiedener Subtypen umgehen kann, kann sich Kollaritsch im Moment nicht wirklich vorstellen: "Das kommt mir fast zu einfach vor. Es wär schön, wenn es funktioniert, aber ich glaube es gehört auf den Wunschzettel."
Eva Obermüller, science.ORF.at