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Rolf-Dieter Heuer und Fabiola Gianotti bei einer PK

"Wir laufen keiner Theorie hinterher"

Der große Teilchenbeschleuniger des Europäischen Kernforschungszentrums (CERN) läuft auf Hochtouren. Nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens wollen Wissenschaftler nun herausfinden, ob es jenseits der "normalen" Physik noch etwas gibt.

Interview 29.07.2015

Wie ist der Stand der Experimente? Rolf-Dieter Heuer und Fabiola Gianotti wissen die Antwort. Der gegenwärtige CERN-Generaldirektor und seine designierte Nachfolgerin sprechen über die Vision einer Weltmaschine und die neue Physik, die man zu entdecken hofft. Fazit: Wenn es sie gibt, dann wird sie sich bereits am prominenten Higgs-Teilchen zeigen - zumindest indirekt.

science.ORF.at: Bevor wir uns der Physik zuwenden, würde ich gerne über ein anderes Thema sprechen. Ich interessiere mich für den Job des CERN-Generaldirektors …

Rolf-Dieter Heuer: … Sie sollten sich bewerben!

Ich meinte: Was ist das für ein Beruf?

Rolf-Dieter Heuer: Ein Job, der mehr oder weniger alles beinhaltet. Man muss natürlich ein guter Physiker sein, aber auch Diplomat und Manager. Der CERN-Generaldirektor ist im Grunde der Bürgermeister einer Stadt – er hat mit Verkehr und Unfällen, mit Gesundheitsversorgung und Rechtsfragen zu tun. Aber es gibt Mitarbeiter für all das. Man muss delegieren können.

Frau Gianotti, sehen Sie das auch so?

Fabiola Gianotti: Nun, ich habe den Job ja noch nicht übernommen, insofern kann ich noch nicht aus Erfahrung sprechen. Für mich steht jedenfalls fest: Gerade diese Breite der Aufgaben – die Wissenschaft, die Administration und natürlich auch der Umgang mit Menschen – macht den Job für mich sehr attraktiv.

Kongress in Wien

Die Europäische Physikalische Gesellschaft hält die weltgrößte Teilchenphysikkonferenz des Jahres erstmals in Wien ab. Anlässlich des Kongresses waren auch Heuer und Gianotti in Wien. Die bis 29. Juli laufende "European Physical Society Conference on High Energy Physics" wurde von der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Uni Wien und der TU Wien veranstaltet.

Rolf-Dieter Heuer und Fabiola Gianotti lachen vor der Kamera

CERN

Fabiola Gianotti und Rolf-Dieter Heuer legen ihren Job tänzerisch an

Ist man in dieser Position noch Wissenschaftler?

Rolf-Dieter Heuer: In gewissem Maße ja, weil wir natürlich verstehen und beurteilen müssen, was am CERN vor sich geht. Und wie erwähnt, man muss darüber hinaus auch ein gewisses diplomatisches Geschick entwickeln. Wenn ich zum Beispiel erreichen möchte, dass dem CERN ein neues Land beitritt, dann muss ich mit Politikern verhandeln. Man hat mit allen Ebenen der Politik zu tun: Das beginnt bei den Forschungsfonds und reicht bis hin zu Ministern, Präsidenten und Königen.

Fabiola Gianotti: Der politische Aspekt ist sicher da, aber ich habe Professor Heuer immer als jemanden erlebt, der sich sehr stark von der Wissenschaft anregen lässt und Visionen entwickelt.

Rolf-Dieter Heuer: Die Wissenschaft ist die treibende Kraft, sie muss es auch sein. Wir können der Welt zeigen, was möglich ist, wenn alle zusammenarbeiten und ein Ziel verfolgen. Das ist ein Aspekt, den ich an dieser Aufgabe sehr schätze.

Fabiola Gianotti: Als Diplomaten mögen wir nicht perfekt sein. Doch die Begeisterung und der Enthusiasmus für die Wissenschaft – das ist sicher etwas, das auch Politiker überzeugt. Das ist unsere Stärke.

Eines haben Sie bis jetzt nicht erwähnt: Der Generaldirektor oder die Generaldirektorin muss die Entdeckungen der CERN-Forscher auch medial gut verkaufen können.

Fabiola Gianotti: Den Begriff "verkaufen" mag ich nicht so sehr, denn die Wissenschaft stellt Dinge fest. Aber klar, es ist äußerst wichtig, unsere Forschungsergebnisse zu kommunizieren und so einfach wie möglich zu erklären. Und zwar nicht nur deswegen, weil wir von öffentlichen Geldern finanziert werden. Die Vermehrung des Wissens ist ein Wert, der alle betrifft. Wir haben das Higgs-Boson nicht nur für uns entdeckt. Das war eine Entdeckung für die ganze Menschheit.

Rolf-Dieter Heuer: Ich möchte Ihnen, Herr Czepel, ein wenig widersprechen. Eine neue Entdeckung zu kommunizieren, ist relativ einfach. Viel schwieriger ist es in der Zwischenzeit, wenn nichts entdeckt wurde. Denn auch dann muss man die Menschen berühren und ihnen eine Idee davon geben, was hier passiert. Das ist eine Herausforderung.

Was hier am CERN betrieben wird, ist Grundlagenforschung. Was würden Sie jemandem Antworten, der folgenden Standpunkt vertritt: Wissenschaft soll den Hunger bekämpfen und bessere Medikamente liefern. Aber was nützt es uns, wenn wir subatomare Teilchen untersuchen?

Rolf-Dieter Heuer: Zunächst einmal steht ganz außer Zweifel, dass die Menschen Nahrung, bessere Medikamente und ein besseres Leben brauchen. Aber man darf die Grundlagenforschung nicht vergessen. Denn wenn es die nicht gibt, gibt es ein paar Jahre später auch keine angewandte Wissenschaft mehr. Diese beiden Formen der Wissenschaft sind nicht trennbar.

Nehmen Sie an, man hätte die Wissenschaftler vor 200 Jahren aufgefordert, Forschungen für besseres Licht anzustellen, dann hätten sie vermutlich versucht, das Wachs von Kerzen zu verbessern. Aber auf diesem Weg hätten sie niemals die Glühbirne entwickelt. Die Glühlampe ist das Ergebnis von Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Elektrizität.

Was ist die Vision des CERN?

Rolf-Dieter Heuer: Wir wollen mehr über das frühe Universum wissen und über die Bausteine der Materie, aus denen auch wir bestehen. Dazu braucht es viel Zeit. Unser großer Teilchenbeschleuniger, der LHC, ging 2010 in Betrieb. Diskutiert haben wir diese Idee schon viel früher, nämlich in den 80er Jahren. Das sind die Zeitmaße in unserem Geschäft: zehn Jahre für die Entwicklung, zehn Jahre für den Bau und 20 bis 30 Jahre für die Experimente.

Der LHC gilt als die größte Maschine der Welt: Was kommt danach?

Rolf-Dieter Heuer: Wir haben vor anderthalb Jahren eine Studie für einen möglichen Nachfolger begonnen, dessen Tunnel nicht 27, sondern 100 Kilometer lang sein soll. Momentan versuchen wir herauszufinden, ob das technologisch machbar ist. Denn dafür müsste man unter anderem stärkere Magneten entwickeln, die es heute noch gar nicht gibt. An der Studie sind mehr als 50 Institutionen aus aller Welt beteiligt. Denn genau das soll der neue Beschleuniger auch werden: eine Weltmaschine.

Die gegenwärtigen Teilchenkollisionen erreichen Energien von 13 bis 14 Teraelektronenvolt (TeV). Wie hoch wären die Energien beim Nachfolger des LHC?

Rolf-Dieter Heuer: 100 TeV. Normalerweise würde man sagen, wir wollen eine Größenordnung mehr. Aber wir sind bescheiden, wir geben uns mit Faktor sieben zufrieden.

Cover des Magazins "Science"

Maximilien Brice, Claudia Marcelloni/CERN

Die Entdeckung des Higgs-Bosons - vom Fachblatt "Science" 2012 als Durchbruch des Jahres gefeiert

Bitte um eine persönliche historische Einschätzung: Welche Entdeckung am CERN war aus Ihrer Sicht die wichtigste?

Fabiola Gianotti: Das Higgs-Boson!

Rolf-Dieter Heuer: Tut mir leid, ich kann nichts anderes beisteuern. Bei mir ist es auch das Higgs-Boson.

Warum?

Rolf-Dieter Heuer: Stellen Sie sich vor: Sie sind ein Theoretiker, der im Jahr 1964 in einer kurzen Arbeit einen Mechanismus vorschlägt, der allen Teilchen im Universum ihre Masse verleiht. Und dieser Mechanismus sagt die Existenz eines neuartigen Teilchens voraus. Dann dauert es 48 Jahre, bis dieses Teilchen tatsächlich entdeckt wird. Der letzte Baustein, der im Standardmodell der Elementarteilchen noch fehlt. Das ist …

Fabiola Gianotti: … etwas ganz Besonderes.

Rolf-Dieter Heuer: Das ist das Sahnehäubchen.

Wie sieht es mit den aktuellen Experimenten aus? Gibt es Hinweise auf neue Entdeckungen?

Rolf-Dieter Heuer: Die Analyse wird sicher noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Zumindest lässt sich sagen: Wir haben zwei Monate nach dem Neustart des LHC ungefähr 100 Mal so viele Daten wie 2010, als wir die Experimente mit sieben bis acht TeV begonnen hatten. Stand der Dinge ist: Bis jetzt haben wir alle bekannten Teilchen wiederentdeckt, nur das Higgs-Boson noch nicht, das benötigt ein bisschen mehr Statistik.

Was sagt das Modell voraus?

Rolf-Dieter Heuer: Ein Higgs-Boson bei acht Tev und eines bei 13 TeV.

Ein anderes Higgs-Boson?

Rolf-Dieter Heuer: Nein, das gleiche. Das Higgs-Boson zeigt sich nur in verschiedenen Energiebereichen.

Fabiola Gianotti: Die Experimente bei acht TeV sind abgeschlossen. Nun versuchen wir den Nachweis bei 13 TeV zu wiederholen.

Angenommen, der Nachweis bei 13 TeV gelänge nicht. Was würde das bedeuten?

Fabiola Gianotti: Das wäre eine ungeheure Überraschung …

Rolf-Dieter Heuer: … eine Revolution der Teilchenphysik. Dann würde das Standardmodell zusammenbrechen. In diesem Fall wäre auch der Higgs-Mechanismus falsch, der den Teilchen ihre Masse verleiht. Ich bin nicht gegen wissenschaftliche Revolutionen, aber ich habe ich nicht genug Vorstellungsgabe um an so etwas zu denken.

Fabiola Gianotti: Wir hoffen eher, dass wir etwas Neues entdecken.

Rolf-Dieter Heuer: Zum Beispiel die Brüder und Schwestern des Higgs-Teilchens.

Sie meinen jene Partner des Higgs-Teilchens, wie sie von der sogenannten Supersymmetrie vorausgesagt werden?

Fabiola Gianotti: Ja, das wäre eine Möglichkeit. Aber es gäbe auch viele andere. Wir laufen keiner Theorie hinterher. Wir stellen bloß Fragen.

Angenommen, das Higgs-Teilchen hat tatsächlich Verwandte. In welchen Energiebereichen könnten sie sich zeigen?

Fabiola Gianotti: Das wissen wir nicht.

Es gibt keine Voraussagen?

Rolf-Dieter Heuer: Es gibt sehr viele Voraussagen. Das Problem ist, dass die Voraussage von so vielen Parametern abhängig ist.

Das heißt, die neuen Teilchen könnten sich – wenn es sie gibt – auch in viel höheren Energiebereichen verstecken?

Fabiola Gianotti: Ja, es könnte sein, dass die Supersymmetrie existiert, sich aber erst bei so hohen Energien zeigt, dass wir sie auf der Erde niemals nachweisen werden.

Rolf-Dieter Heuer: Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wir wissen nämlich sehr genau, welche Eigenschaften das Higgs-Boson haben muss. Wenn es zusätzliche Teilchen gibt, könnten sie entsprechende Präzisionsmessungen stören. In diesem Fall würden wir zu den Theoretikern gehen und sagen: Hier ist eine Differenz zwischen Messung und Vorhersage – welches Modell könnte das erklären?

Als indirekter Effekt "von oben"?

So ist es. Denken Sie an Pluto. Der wurde auch auf diese Weise entdeckt – durch die Störungen auf die Umlaufbahnen der bereits bekannten Planeten.

Was werden die nächsten Jahre bringen? Ich bitte um eine Spekulation.

Fabiola Gianotti: Ich hoffe auf eine große Überraschung.

Rolf-Dieter Heuer: Ich habe keine Vermutung, aber ich kann Ihnen sagen: Fabiola Gianotti wird eine ausgezeichnete Generaldirektorin.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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