Fachwissen gefragt
Ö1 Sendungshinweis:
Über die Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtete auch das Mittagsjournal am 4. August 2015.
180 Mal wurde in den Jahren 2013 und 2014 ein Kind bzw. ein Jugendlicher laut Patientenanwaltschaft in Wien in die Erwachsenenpsychiatrie eingewiesen, weil Plätze in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilungen gefehlt haben. Die Konfrontation mit psychisch kranken Erwachsenen kann für Kinder und Jugendliche sehr belastend sein.
Bernhard Rappert vom Vertretungsnetz Patientenanwaltschaft kritisiert auch, dass "die Erwachsenenpsychiatrie weder über die Ressourcen noch über das spezielle Knowhow verfügt. Es gibt kein entsprechendes pädagogisches und schulisches Angebot."
Hinzu kommt laut Patientenanwalt Rappert, dass es kaum Psychopharmaka gibt, die für junge Patienten und Patientinnen zugelassen sind: "Minderjährige bekommen dennoch Psychopharmaka auf der Psychiatrie, was auch der medizinischen Praxis entspricht. Gerade bei dieser Personengruppe braucht es aber langjährige Erfahrung und Fachwissen über die Dosierung, um das korrekt durchzuführen."
Vorwurf: Häufigere Fixierungen
In der Psychiatrie selbst darf im Akutfall die Bewegungsfreiheit eines Menschen eingeschränkt werden, etwa durch Fixierungen am Bett. "Es ist auffällig, dass solche Fixierungen an Jugendlichen auf der Erwachsenenpsychiatrie deutlich häufiger stattfinden als auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie", schildert Patientenanwalt Rappert.
Charlotte Hartl von der Österreichischen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie kann diese Beobachtung nachvollziehen. Denn um Fixierungen zu vermeiden, braucht es laut ihren Aussagen neben der speziellen Ausbildung des medizinischen Personals auch Infrastruktur in Form von Auszeiträumen, die so gepolstert sind, dass sich das Kind bzw. der Jugendliche nicht verletzen kann.
In einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung bleibt der Jugendliche gemeinsam mit zwei Betreuungspersonen im Auszeitraum, bis nach der Aufregungsphase die Erschöpfung eintritt, so die Kinderpsychiaterin: "Dann erspart man sich einerseits die Fixierung und andererseits auch die hochdosierte Medikation."
Ausbau notwendig
Damit Kinder und Jugendliche in psychischen Ausnahmesituationen besser versorgt werden können, braucht es dringend einen Ausbau der Spezialabteilungen. Experten sprechen davon, dass allein in Wien 120 bis 160 Plätze für Kinder und Jugendliche nötig wären, derzeit gibt es 64 - akut- und längerfristige Versorgung zusammengerechnet.
Das Gesundheitsministerium spricht auf Anfrage davon, dass der aktuelle Zustand "unbefriedigend" sei, verweist aber auf die Zuständigkeit der Länder sowie auf das Bemühen, für Kinder und Jugendliche außerhalb der Krankenhäuser die Versorgung zu verbessern.
Ein im Regierungsprogramm angekündigtes Konzept für die Kinder- und Jugendpsychiatrie, das heuer fertiggestellt werden sollte, wird bis Ende 2016 brauchen. Zusätzlich habe man den Beruf des Kinder- und Jugendpsychiaters als Mangelfach definiert, um mehr Ausbildungsstellen anzuregen und damit die Kapazitäten zu erhöhen.
KAV: "Zu Versorgung verpflichtet"
Der Wiener Krankenanstaltenverbund KAV stellt in einer Stellungnahme fest: "Sollte es zu Engpässen in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilungen kommen, sind wir dennoch in Akutsituationen dazu verpflichtet, die Minderjährigen medizinisch zu versorgen. Das wäre dann etwa die Betreuung und Unterbringung in einer 'Erwachsenen'-Psychiatrie. Die Versorgung dort ist immer nur kurzfristig und im Rahmen einer Notsituation zu verstehen."
Außerdem weist man darauf hin, dass "der Facharzt für Psychiatrie aufgrund seiner umfassenden Ausbildung befähigt ist, Kinder und Jugendliche zu behandeln". Selbstverständlich würden in diesen Ausnahmefällen immer zusätzlich umgehend die Expertisen der Kinder- und Jugendpsychiater eingeholt.
Eine generelle Entschärfung der Situation der erhofft man sich vom Krankenhaus Wien Nord, in dem bis 2017 weitere 30 Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie entstehen sollen. Dann wäre man nach jetzigem Stand auf 94 Betten - das wäre also noch immer nicht von Experten geforderte Anzahl.
Elke Ziegler, science.ORF.at