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Eine Hubschrauberpilotin des Bundesheers steht vor einem Hubschrauber

Eine Armee für ganz Europa?

Nach Ansicht der deutschen Politikwissenschaftlerin Ronja Kempin ist die europäische Verteidigungspolitik auf halbem Wege stehen geblieben. Sie fordert eine konsequente Zusammenarbeit über Grenzen hinweg: Das sei für die Bewahrung des Friedens notwendig, schreibt Kempin in einem Gastbeitrag - und könnte überdies Milliarden Euro sparen.

Forum Alpbach 2015 11.08.2015

Kleinstaaterei überwinden!

Von Ronja Kempin

Im Juni 1999 erklärten die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten auf ihrer Gipfelzusammenkunft in Köln, entschlossen dafür eintreten zu wollen, "dass die Europäische Union ihre Rolle auf der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnimmt".

Dazu solle die EU "die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen, um - unbeschadet von Maßnahmen der NATO - auf internationale Krisensituationen zu reagieren."

Mit dieser sperrigen Formulierung bekundeten die EU-Staaten ihren Willen, den europäischen Integrationsprozess auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik auszuweiten und die EU zu einem glaubwürdigen internationalen Akteur zu machen.

Porträtfoto von Ronja Kempin

Ronja Kempin

Zur Person

Ronja Kempin (geb. 1974) ist Senior Fellow der Forschungsgruppe EU/Europa an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die SWP berät den Bundestag und die Bundesregierung in außenpolitischen Fragen. Von 2010 bis 2014 war Kempin Leiterin der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen an der SWP. 2014 arbeitete sie als Beraterin im Auswärtigen Amt in Berlin.

Ronja Kempin forscht zu Fragen europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie hat in Marburg, Berlin, Rennes und Paris Politikwissenschaften studiert und an der FU Berlin promoviert. Zu ihren Arbeitsstationen gehören der Deutsche Bundestag, das Copenhagen Peace Research Institute, das Institut de Relations Internationales et Stratégiques und die Harvard University.

Seminare beim Forum Alpbach

Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach leitet Kempin mit Sven Biscop vom 20. bis 25.8. das Seminar "Ungleichheit: Maßgebender Faktor für die Sicherheitspolitik der EU". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

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Ö1-Hinweise

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2015 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent

Von Einheit weit entfernt

Gut 15 Jahre nach dieser Erklärung sind die EU-Mitgliedstaaten weit davon entfernt, im Rahmen der EU als sicherheits- und verteidigungspolitische Einheit aufzutreten. Seit 2003 haben sie im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) zwar mehr als 30 Missionen und Operationen durchgeführt und in Asien, Afrika wie auf dem Balkan den Frieden erhalten sowie Staaten stabilisiert.

Doch noch immer leisten sich die 28 Mitgliedstaaten den Luxus, nationale Streitkräfte zu unterhalten und deren Ausrüstung über heimische Firmen (teuer) zu beschaffen. Der wachsende Druck auf die nationalen Verteidigungshaushalte – die Ausgaben in der EU-28 sind zwischen 2005 und 2014 um neun Prozent gesunken – drastische Personalkürzungen in den Armeen und das Wissen darum, das den sicherheitspolitischen Herausforderungen und Bedrohungen nur gemeinsam begegnet werden kann, reichen bis heute nicht aus, um die Integration voranzutreiben.

Kosten höher als in den USA

Die Regierungsverantwortlichen in den Mitgliedstaaten nehmen billigend in Kauf, dass sie für das 1,5-fache Verteidigungsbudget der USA lediglich ein Zehntel der militärischen Fähigkeiten Amerikas erhalten. Experten schätzen die Kosten der Nicht-Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf jährlich etwa 26 Mrd. Euro.

Wären die Streitkräfte der Mitgliedstaaten vollkommen interoperabel, würden also die gleichen Kommunikationssysteme, die gleiche Kleidung und Munition benutzen sowie die gleichen Standards bei der Unterbringung und der Sanitätsversorgung haben, könnten Kosten in Höhe von 20,6 Mrd. Euro eingespart werden.

Eine gemeinsame Nutzung von Infanteriefahrzeugen wäre etwa 600 Mio. Euro billiger als das praktizierte nationale Vorhalten dieser Fähigkeit.

Erster Vorstoß 1954

Die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik steht seit den 1950er Jahren auf den Tagesordnungen der EU. 1954 scheiterte die Einrichtung einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft", welche die Schaffung einer "Europäischen Armee" vorsah, an Frankreich.

Die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung taten sich schwer, nur neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs der Wiederbewaffnung Westdeutschlands und einer Beendigung des Besatzungsstatus über das Nachbarland zuzustimmen. In den 1980er und frühen 1990er Jahren scheiterten Integrationsbemühungen an der Frage, ob eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik im Sinne der Nato, und damit vor allem im Interesse Washingtons sei.

Die Lehre aus den Balkankriegen

Die Balkankriege der 1990er Jahre führten den EU-Staaten dann jedoch die Konsequenzen ihrer sicherheits- und verteidigungspolitischen Zögerlichkeit drastisch vor Augen: Allein mithilfe der USA gelang es, dem Völkermord Einhalt zu gebieten. Frankreich und Großbritannien ergriffen in der Folge die Initiative; 1998 legten sie den Grundstein für die Zusammenarbeit im EU-Rahmen. Die damit einhergehende Euphorie verflog indes jäh.

Zwischen 1999 und 2002 wurden zwar militärische wie zivile Ziele vereinbart, mittels derer die EU-Staaten auf Bedrohungen reagieren wollten; 2003 konnte die Europäische Sicherheitsstrategie verabschiedet werden, in der sich die Mitgliedstaaten darauf verständigten, die Verhinderung von Krisen und deren Bearbeitung zum Kern der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen; seit 2003 sind die EU-28 gemeinsam operativ tätig.

In der Praxis zeigte sich jedoch, dass die sicherheits- und verteidigungspolitischen Schwerpunkte der Mitgliedstaaten derart unterschiedlich sind, dass eine gemeinsame Schnittmenge nur sehr schwer zu finden ist.

Von dieser Schwierigkeit zeugen auch die GSVP-Missionen und Operationen, die oft mit unter 100 Personen bestückt sind sowie die Tatsache, dass die schnelle Eingreiftruppe der Union, die EU-Battlegroups, bis heute nicht zum Einsatz gebracht wurden. In der Folge gingen Mitgliedstaaten sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperationsbeziehungen außerhalb des EU-Rahmens ein: Frankreich und Großbritannien, die nordischen Staaten, die Visegrad-Gruppe arbeiten in Feldern zusammen, welche den Staaten besonders wichtig sind.

Terror und Flüchtlingsdramen

Die Krise um die Ukraine, die Terroranschläge in Frankreich sowie die Flüchtlingskatastrophen, die sich nunmehr täglich vor den Toren der EU ereignen, haben den Mitgliedstaaten in den vergangenen Monaten einmal mehr vor Augen geführt, dass gemeinsame Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen gefunden werden müssen.

Kein Mitgliedstaat ist länger allein in der Lage, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen und einen Beitrag zu einer friedlicheren Welt zu leisten. Die Rezepte für "mehr Europa in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik" liegen seit langem vor. So könnte eine neue Sicherheitsstrategie den Konsens unter den Mitgliedstaaten darüber erneuern, in welchen Konflikten die Union tätig werden soll und welche Mittel sie jeweils als geeignet ansieht, die Konflikte zu bearbeiten (Diplomatie, Polizei, Militär).

Der Vertrag von Lissabon erlaubt es Mitgliedstaaten, die besonders eng zusammenarbeiten wollen, eine "ständige strukturierte Zusammenarbeit" einzugehen und damit den Weg zu mehr Integration zu beschreiten. Die Politik kann sich der Zustimmung der Bevölkerung zu verstärkter Harmonisierung gewiss sein.

Zustimmung der EU-Bürger

Seit über 40 Jahren sprechen sich mehr als 70 Prozent der EU-Bürgerinnen und Bürger für eine stärkere europäische Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus.

Die politischen Verantwortungsträger sind somit aufgefordert, politischen Mut und Willen zur Kooperation aufzubauen und in die Fähigkeit der anderen EU-Partner zu gemeinsamem Handeln in der Sicherheit- und Verteidigungspolitik zu vertrauen. Die Stunde Europas ist einmal mehr gekommen.

Sie erneut ungenutzt zu lassen birgt das Risiko der Desintegration und der Renationalisierung in diesem Politikfeld. Dabei lehrt uns die Geschichte, dass Kleinstaaterei weder Europa noch der Welt zum Vorteil gereicht hat.

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