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Euro-Münzen vor dem Hintergrund einer EU-Flagge

Europa: Vor oder zurück?

Ein Richtungsstreit tobt in Europa, der da lautet: Rückkehr zu mehr Nationalstaat oder mehr Europäische Union? Die Bankexpertin Gertrude Tumpel-Gugerell plädiert in einem Gastbeitrag für letzteres und fasst zusammen, wie die europäische Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft vollendet werden soll - ein gemeinsames Finanzministerium inklusive.

Forum Alpbach 2015 20.08.2015

Die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion

Von Gertrude Tumpel-Gugerell

Sommer 2015: Die griechische Regierung ist an den Verhandlungstisch zurückgekehrt. Das Schicksal dieses Landes hat in den vergangenen Wochen viele bewegt. In den Hintergrund getreten ist dabei der Bericht, den die fünf Präsidenten Ende Juni veröffentlicht haben. Europäische Kommission, Rat, Parlament, Zentralbank und Euro-Gruppe haben darüber nachgedacht, wie die Wirtschafts-und Währungsunion im Laufe des nächsten Jahrzehnts vertieft werden kann.

Porträtfoto der Bankerin Gertrude Tumpel-Gugerell

APA - Roland Schlager

Zur Person

Gertrude Tumpel-Gugerell war von 1998 bis 2003 Vize-Gouverneurin der Österreichischen Nationalbank, von 2003 bis 2011 Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank und ist zurzeit Emerita Consultant des Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO).

Seminare beim Forum Alpbach

Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach leitet Tumpel-Gugerell mit Hans-Helmut Kotz vom 20. bis 25. 8. das Seminar "Makroökonomische Ungleichgewichte in Europa: Ist die WWU zum Überleben verurteilt?". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

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Ö1 Hinweise

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2015 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Sendungshinweis:

Menschen & Mächte: Alpbach ‒ Mein Europa ‒ Ein Dorf: 19.8., 22:30 Uhr, ORF 2.

Zuletzt hatte ein Bericht dieser Gruppe vor drei Jahren für Schlagzeilen gesorgt. Im Sommer 2012 wurde die Bankenunion vorgeschlagen und innerhalb von zwei Jahren verwirklicht. Wenige Wochen später hielt EZB-Präsident Mario Draghi seine mittlerweile berühmte Rede in London. Darin enthalten war seine Aussage, "wir werden tun, was immer erforderlich ist", um die wirtschaftliche Situation in der Euro-Zone zu verbessern.

Damit wurde eine Trendwende eingeleitet, das Vertrauen in die Euro-Staaten kehrte zurück. Die hohen Zinsen, die einzelne Staaten zahlen mussten, wurden niedriger. Mit dem Ankaufsprogramm für Anleihen der EZB fiel der Euro-Wechselkurs, der niedrige Ölpreis tat ein Übriges. Seit Anfang 2015 wächst die Wirtschaft der Euro-Zone wieder.

Dennoch: Arbeitslosigkeit, zögerliche Strukturreformen und geopolitische Sorgen prägen das Bild ebenso wie die wachsende Unterstützung für populistische europakritische Parteien. Was enthält also dieser Bericht, der Orientierung für die nächsten zehn Jahre bieten soll?

Wirtschafts- und Währungsunion vollenden

Die erste Stufe lautet "Vertiefung in der Praxis" und soll bis Juli 2017 erreicht werden. Gemeint ist damit: Die Instrumente einsetzen, die schon vorhanden sind, die existierenden Verträge der Mitgliedsländer mit Leben erfüllen. Einen neuen Anlauf nehmen, um wettbewerbsfähiger und auch sozial gerechter zu werden. Es geht um mehr demokratische Rechenschaftspflicht gegenüber den Parlamenten und den Bürgern.

Danach heißt es in einem zweiten Schritt "Vollendung der Wirtschafts-und Währungsunion": Werden die Wirtschaftsstrukturen ähnlicher, wirken die gemeinsamen Instrumente wie Zinsen und öffentliche Ausgaben auch gleichmäßiger. Die Steuerung mit Hilfe gemeinsam vereinbarter Regeln war bisher nur mäßig erfolgreich – daher möchte man die geneinsamen Institutionen verstärken, wie z.B. mittelfristig ein gemeinsames Finanzministerium schaffen.

EU-Einrichtungen für Finanz, Banken und Wettbewerb

Die Europäische Kommission hat den Auftrag, in den nächsten zwei Jahren praktische Vorschläge, ein sogenanntes Weißpapier zu erarbeiten. 30 Jahre ist es her, dass der damalige Präsident der Europäischen Kommission den Weg vorgezeichnet hat für den gemeinsamen Markt – mit Maßnahmen und einem Zeitplan.

Eine gemeinsame Institution für Wettbewerbsfähigkeit soll unabhängige Einschätzungen in die nationalen Beratungen und Verhandlungen der Sozialpartner einbringen. Die gemeinsame Bankenaufsicht und Bankenrestukturierungsbehörde mit dem gemeinsamen Fonds für die Restrukturierung von Banken sollen um eine Europäische Einlagensicherung ergänzt werden, eine Art Rückversicherung für die nationalen Sicherungssysteme. Auch an der Fiskalunion soll weiter gearbeitet werden.

Wie sehr eine nicht nachhaltige Budgetpolitik ein Land an den Rand von Chaos und Armut führen kann, haben wir in den vergangenen Jahren gesehen. Daher schlagen die fünf Präsidenten einen europäischen Fiskalrat vor, der die nationalen Räte koordinieren und ergänzen soll. Wenn ein Land Schocks ausgesetzt ist, die es nicht allein bewältigen kann, soll es finanzielle Hilfe geben. Der Europäische Fonds für Strategische Investitionen soll als Finanzierungsquelle dienen.

Bedeutet auch mehr Transparenz

Wenn wir mehr Europa bekommen im Sinne gemeinsam getroffener Entscheidungen und gemeinsamer Institutionen, brauchen wir mehr Transparenz, wer was und warum entscheidet.
Europa ist längst zusammengewachsen, weil Krisenbewältigung nur gemeinsam möglich war.
Mehr Verflechtung bedeutet mehr Anteilnahme, der nationalen Parlamente ebenso wie der
nationalen Öffentlichkeiten. Länderspezifische Empfehlungen und nationale Reformprogramme werden nur umgesetzt, wenn es einen nationalen Willen dafür gibt.

Die vergangenen fünf Jahre haben gezeigt, dass die Stabilisierung der Eurozone, die Schaffung der Bankenunion, die Rückkehr zu Wachstum und hoffentlich auch bald wieder zu Investitionen und mehr Beschäftigung nur mit Hilfe gemeinsamer Maßnahmen möglich war. Überbrückungshilfe im Krisenfall, das Wissen, dass Euro-Länder auch von ihren Nachbarn Hilfe erhalten, wenn sie vorübergehend in Schwierigkeiten sind, haben das Vertrauen in diese Region mit 330 Millionen Menschen im EU-Durchschnitt wieder steigen lassen.

Europa möchte wettbewerbsfähig sein in einer globalisierten Wirtschaft, seinen sozialen Zusammenhalt verbessern und seiner nächsten Generation gute Lebenschancen bieten: Es ist noch viel zu tun.

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