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Die Tower Bridge in London

Soziale Trennung in Städten nimmt zu

Arme wohnen in dem einen Teil der Stadt, Reiche in einem ganz anderen: Was in den USA länger bekannt ist, hat auch die europäischen Städte erreicht. Die soziale Durchmischung nimmt ab - auch in Wien. Zu diesem Schluss kommt der niederländische Demografieforscher Maarten van Ham in einer aktuellen Studie.

Technologiegespräche Alpbach 28.08.2015

Warum die Politik diesen Prozess aufhalten sollte, erklärte er bei den Technologiegesprächen in Alpbach.

Gespaltene Städte

Für seine Studie "Socio-Economic Segregation in European Capital Cities" haben Maarten van Ham von der Technischen Universität Delft und ein großes Team von internationalen Kollegen Bevölkerungsdaten aus 13 europäischen Hauptstädten analysiert. Für Projekt wurden riesigen Datensätze von den Volkszählungen der Jahre 2001 und 2011 ausgewertet.

Die Ergebnisse zeigen, dass es in allen untersuchen Städten die Tendenz gibt, dass besser Verdienende in bestimmten Vierteln leben, während ärmere Menschen mit einem niedrigeren Bildungsniveau in anderen Stadtteilen die Bevölkerungsmehrheit stellen.

Die soziale Durchmischung nimmt fast überall ab, sagt Maarten van Ham: "In zwölf der untersuchten Städte hat die sozio-ökonomische Segregation in den vergangen zehn Jahren zugenommen. Dazu gehören unter anderen London, Riga, Madrid, Athen und Budapest. Dort leben Arm und Reich immer weiter voneinander entfernt."

Zur Person

Maarten van Ham ist Professor für Urban Renewal und Leiter der Forschungsgruppe "Neighbourhood Change and Housing" an der Technischen Universität Delft. Die Studie zur sozio-ökonomischen Segregation in europäischen Hauptstädten, Socio-Economic Segregation in European Capital Cities, ist bei Routledge erschienen.
Für sein nächstes Forschungsprojekt über sozial benachteiligte Nachbarschaften, hat Maarten van Ham eine Forschungsförderung des European Research Council (ERC) in der Höhe von zwei Millionen Euro erhalten.

Technologiegespräche in Alpbach:

Von 27. bis 29. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion . Das Thema heuer lautet "UnGleichheit". Davor sind in science.ORF.at Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bei den Technologiegesprächen vortragen oder moderieren.

Links:

Ö1 Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2015 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Einzige Ausnahme: Amsterdam

Die einzige Ausnahme ist Amsterdam: Dort läuft dieser Prozess langsamer ab. Das dürfte ein Ergebnis der Wirtschaftskrise sein, vermutet van Ham: "Mittelklassefamilien konnten es sich dort nicht mehr leisten, an den Stadtrand in ein Reihenhaus zu ziehen. Deswegen blieben sie in sozialen Wohnbauten und die Stadt damit durchmischt."

Doch auch hier zeichnet sich ein neuer Trend ab: Die Preise haben sich beruhigt, und nun befürchten die Menschen, dass Immobilien bald wieder teurer werden. Jetzt investieren Familien mit mittleren Einkommen wieder zunehmend in Eigenheime am Stadtrand. "Wir gehen davon aus, dass die Mittelschicht in den nächsten Jahren aus der Stadt rausziehen wird und dadurch mehr Segregation verursacht", sagt der niederländische Sozialforscher.

Marten van Ham in Alpbach

ORF/Hans Leitner

Überraschungen: Wien und Stockholm

Von einigen Ergebnisse waren Maarten van Ham und sein Team sehr überrascht: Stockholm, eine Stadt, die sozial immer durchmischt war, verzeichnete zwischen 2001 und 2011 die stärkste räumliche Polarisierung. Das habe mehrere Gründe: Die Politik in Schweden wurde insgesamt konservativer, Sozialleistungen wurden gestrichen, es gab weniger Investitionen in sozialen Wohnbau. Und die Migration sei auch ein Faktor, sagt van Ham. Viele Migranten, die nach Stockholm kommen, lassen sich dort nieder, wo das Wohnen am günstigsten ist. "Was passiert, wenn die Politik bei der Segregation wegsieht, haben wir 2013 bei den Unruhen in Stockholm gesehen", betont der Sozialforscher. "Zu solchen Ausschreitungen kommt es meistens, wenn bei der sozialen Durchmischung ein bestimmter Punkt unterschritten wurde."

In Wien sei dieser Punkt laut Studie noch nicht erreicht. Aber, die "Entmischung" der österreichischen Hauptstadt habe seit 2001 stark an Dynamik gewonnen. "Auch in Wien spielt die Migration eine große Rolle. Migranten sind einfach auf günstige Quartiere angewiesen", sagt van Ham. Aber es gäbe auch andere Faktoren: Dazu gehöre die Zunahme von Fachkräften auf dem urbanen Arbeitsmarkt. "Die Anzahl der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und im Finanzsektor hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Wien beinahe verdoppelt. Diese Leute haben ein höheres Einkommen und ein höheres Bildungsniveau und ziehen in bestimmte Stadtviertel", sagt der Sozialforscher.

Gleichzeitig ist es zu einer Deindustrialisierung gekommen: "Wie auch in anderen europäischen Städten, dort werden einfach keine Güter mehr produziert", sagt van Ham. Das heißt, Arbeitsplätze für Menschen mit niedrigem Bildungsniveau werden weniger. Das beschleunige das Auseinanderdriften der sozialen Schichten, zunächst finanziell, dann räumlich.

Maarten van Ham in Alpbach

ORF/Hans Leitner

Welche Maßnahmen?

Welche Folgen das räumliche Auseinanderdriften in Städten wie Wien haben werde, sei schwer einzuschätzen, heißt es in der Studie. Unruhen, wie sie in Paris, London oder Stockholm in den vergangenen 15 Jahren stattgefunden haben, seien Extremereignisse. Ab einem gewissen Punkt der Segregation allerdings wahrscheinlich, sagt van Ham: "Wenn die Chancenungleichheit in einzelnen Stadtteilen so stark zunimmt, führt das unweigerlich zu Perspektivenlosigkeit bei den Betroffenen und sozialen Konflikten."

Der niederländische Wissenschaftler geht allerdings nicht davon aus, dass politische Maßnahmen, die eine soziale Durchmischung in bestimmten Stadtvierteln künstlich wiederherstellen, erfolgversprechend sind. Ein Beispiel: In Rotterdam wurden 1,2 Milliarden Euro in ein Viertel investiert, mit einem niedrigen Einkommensschnitt und vielen Migranten.

"Das hat nichts gebracht", erläutert van Ham. "Dort gab es dann soziale Wohnbauten, in denen Menschen mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Hintergrund zusammenwohnten. Aber die gingen schon nach kurzer Zeit wieder getrennte Wege."

Maarten van Ham plädiert dagegen für Investitionen in die Bildung. Denn wenn das Bildungsniveau steigt, werden auch die Einkommen der Menschen höher. Zwar hätten Menschen immer die Tendenz, sich ihrer sozialen Schicht entsprechend zusammenzurotten. Aber wenn es weniger sozio-ökonomische Unterschiede gibt, nimmt auch die Segregation ab.

Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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