Diese und andere Anwendungsmöglichkeiten selbstassemblierender System sind Thema bei den Alpbacher Technologiegesprächen.
Horrorvorstellung im Spital
Ein Mensch liegt auf dem Operationstisch, an seinem Unterleib klafft ein großer Schnitt. Skalpelle, Tupfer und Klammern werden den Ärztinnen und Ärzten gereicht, sie kämpfen um das Leben des Patienten. Plötzlich reißt eine Arterie – Blut strömt in die offene Wunde. Nun zählt jede Sekunde, die Blutung muss so schnell wie möglich gestoppt werden.
Die Szene, die der Molekularbiologe Shuguang Zhang vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) beschreibt, ist eine Horrorvorstellung. Doch sie ist Alltag in den Operationssälen von Spitälern.
Meist werden Klammern oder Nähte verwendet, um das Blutgefäß zu schließen. Die Wunde ist aber oft nur schlecht zugänglich, es braucht oft zu lange, um die Blutung zu stoppen. Ein von dem Wissenschaftler entwickeltes Material, das seit Kurzem angewendet wird, schafft hier Abhilfe. Das Vorbild für diesen Stoff stammt aus der Natur – man findet es im Körper von Quallen, sagt Shuguang Zhang.

ORF/Hans Leitner
Shuguang Zhang in Alpbach
Technologiegespräche in Alpbach:
Von 27. bis 29. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion . Das Thema heuer lautet "UnGleichheit". Davor sind in science.ORF.at Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bei den Technologiegesprächen vortragen oder moderieren.
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Ö1 Hinweise:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in den Dimensionen: 28.08., 19:05 Uhr. Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2015 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.
Quallen als Vorbild für Pflastermaterial
"Wir haben ein Peptidmaterial entwickelt, das für die Wundheilung eingesetzt werden kann. Es ist ein Hydrogel, das ähnlich aufgebaut ist wie der Körper einer Qualle. Es kann für Operationen verwendet werden, um den Blutverlust zu reduzieren. Damit lassen sich nicht nur viele Leben retten, sondern man verbraucht dadurch auch weniger Blutkonserven bei Operationen."
Dieses Hydrogel sieht aus wie klare Gelatine - es wird mit einer kleinen Spritze direkt auf die Wunde aufgetragen. Darin befinden sich Proteine, die sich zu einem Netz verknüpfen, das so dicht ist, dass es sogar Wassermoleküle einfängt. Ein raffiniertes Prinzip, das Quallen nutzen, um Material zu sparen. Die Weichtiere bestehen nur zu fünf Prozent aus festem Material, hauptsächlich Proteinen. Der Rest ist reines Wasser. Bei dem Hydrogel, das am MIT entwickelt wurde, liegt der Wasseranteil sogar bei 99 Prozent.
Selbstassemblierung als Naturgesetz
Dennoch reicht diese karge Menge aus, um eine wasserdichte Barriere zu schaffen. Sobald man das Gel auf eine Wunde aufträgt, lagern sich die Proteine aneinander und bilden eine Art Pflaster, mit dem Blutungen sofort gestoppt werden. Dabei vernetzen sie sich völlig selbständig miteinander – ein Prozess, der im Fachjargon "Selbstassemblierung" genannt wird. Allein durch die Gleichheit ihrer chemischen Struktur entsteht daraus eine komplexe Struktur.
Dieses Phänomen hat Shuguang Zhang in den Mittelpunkt seiner Forschung gerückt. Denn Selbstassemblierung findet man überall in der Natur, betont der Wissenschaftler. "Wenn man Öl in Wasser gießt, finden sich die Fettmoleküle von alleine zusammen. Das gleiche geschieht umgekehrt mit Wassermolekülen, wenn man sie in Öl gießt". Selbst das Zusammenrotten von Vögeln in einem Schwarm oder die Entstehung von Sternen und Planeten folgen den Gesetzen der Selbstassemblierung, ergänzt Zhang.
Proteindesign für die Forschung
Als Molekularbiologe interessieren ihn aber vor allem selbstassemblierenden Substanzen, die in Lebewesen vorkommen – allen voran die Proteine. Denn Proteine sind nicht nur in ungeheurer Vielfalt in Lebewesen vorhanden, sie lassen sich auch künstlich herstellen. Ihre Struktur folgt einem simplen Schema: Sie bestehen aus zwanzig verschiedenen Bausteinen – die Aminosäuren –, die unterschiedliche chemische Eigenschaften besitzen.
Durch exakte Berechnungen am Computer lassen sich auf diese Weise Proteine mit vielen hundert Aminosäuren entwerfen, die ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen. Zwar funktioniert das in der Realität nicht immer hundertprozentig, räumt Shuguang Zhang ein, dazu sind die dreidimensionalen Faltungen eines solchen Riesenmoleküls einfach zu komplex. Aber dank der Fortschritte in der Bioinformatik könne man bereits recht präzise Vorhersagen treffen, welche Auswirkungen eine bestimmte Reihenfolge von Aminosäuren auf das Molekül haben wird. Und auf welche Weise ihre Selbstassemblierung ablaufen wird.

ORF/Hans Leitner
Neue Medikamente dank veränderter Membranproteine
Derzeit arbeitet Shuguang Zhang an bestimmten Membranproteinen, den G-Protein-gekoppelten-Rezeptoren. Diese Moleküle sind schwierig zu studieren, weil sie sich in die Zellmembran zwischen deren Fettmoleküle einordnen. Doch sie sind extrem wichtig für jede lebende Zelle – mit Ihnen kommuniziert sie zwischen dem Zellinnenraum und der Umgebung. Die Forscher am MIT arbeiten deshalb daran, diese Membranproteine leichter untersuchbar zu machen.
Dazu muss man sie aus der Membran herausholen und in ein Lösungsmittel bringen – ihre Selbstassemblierung in Fettmembranen verhindert das jedoch. Shuguang Zhang verändert daher in seinem Labor die Reihenfolge der Aminosäuren auf eine Weise, die sich ausschließlich auf die Löslichkeit auswirkt. Alle anderen Funktionen bleiben dagegen intakt und lassen sich studieren. So sollen in Zukunft neue Medikamente entworfen werden, die gegen eine Vielzahl von Krankheiten wirken könnten, hofft der Molekularbiologe.
"Wenn wir die Funktionsweise unseres Proteins verstehen, könnten wir eine Menge neuer Wirkstoffe entwickeln. Denn fünfzig Prozent aller Medikamente richten sich heutzutage gegen solche Membranproteine. Gerade bei typischen Alterskrankheiten wie Alzheimer oder anderen neurologischen Erkrankungen sind sie entscheidend. Durch unsere Forschung könnten wir neue Mechanismen entdecken, mit denen sie sich leichter bekämpfen lassen. Und auf diese Weise ließe sich die Lebensqualität vieler Menschen verbessern."
Wolfgang Däuble, Ö1 Wissenschaft
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