Wenn Demografen über Migration sprechen, denken sie berufsbedingt eher im Zeitraum von Jahrzehnten denn in Monaten. "Aktuelle Krisen wie jene in Syrien können wir natürlich nicht vorhersagen", sagt Wolfgang Lutz. Dass nun Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa auswandern wollen, ist für den Direktor des Instituts für Demografie der Akademie der Wissenschaften freilich keine Überraschung.
Ö1-Sendungshinweis
Diesem Thema widmet sich heute auch ein Bericht im Mittagsjournal, 4.9.2015, 12:00 Uhr.
Migrationsströme haben nicht nur mit Armut, Wohlstand, Sicherheit und Krieg zu tun, sondern auch mit demografischen Veränderungen. Eine Entwicklung, die alle Gesellschaften dieser Erde durchmachen, wenn auch nicht unbedingt zur selben Zeit und im selben Tempo.
Gesellschaften im Umbruch
In weniger entwickelten Ländern sind die Sterblichkeit und die Geburtenrate hoch, in entwickelten Ländern sind sie hingegen niedrig. Beide Zustände sind mehr oder weniger stabil, doch im Übergang zwischen diesen Phasen kommt es zu einem rasanten Bevölkerungswachstum.
Der Grund dafür: Zuerst sinken die Sterberaten, die Menschen werden älter und die Kindersterblichkeit nimmt ab. Doch bis die Geburtenrate nachzieht und ebenfalls sinkt, dauert es seine Zeit. Bis es soweit ist, nimmt eben die Bevölkerungszahl zu.
"Das ist gegenwärtig etwa in den Ländern südlich des Mittelmeers so, und das war in der Vergangenheit auch bei uns der Fall", sagt Wolfgang Lutz gegenüber science.ORF.at. "Die Bevölkerung Österreichs ist um das Jahr 1900 stark angewachsen. Und weil es hierzulande keine Jobs für die junge Generation gab, sind viele nach Amerika ausgewandert."
Fred Astaires Vater kam aus Linz
Manche davon - oder ihre Kinder - machten dort große Karriere. Frederick Austerlitz, besser bekannt unter dem Namen Fred Astaire, war einer davon. Der Vater des weltberühmten Tänzers stammte aus Linz, seine Mutter war die Tochter protestantischer Einwanderer aus Ostpreußen und dem Elsass.
Astaire wird auch gerne eine burgenländische Herkunft zugeschrieben - was wohl ins Reich der Legenden gehört. Eher der Wahrheit entspricht indes, dass Chicago die größte burgenländische Gemeinde ist. Zumindest, wenn man mit der Zählung etwas großzügiger umgeht: Laut Erhebungen leben in Chicago bis zu 60.000 Menschen mit burgenländischen Wurzeln.
Zwischen den historisch aus Österreich stammenden und heute nach Österreich ziehenden Migranten sieht Lutz jedenfalls einige Parallelen. Gleichwohl gebe es auch wichtige Unterschiede. "Nordamerika war damals extrem dünn besiedelt, das ist heute in Europa natürlich nicht der Fall. Und man muss auch sehen: Die westlichen Länder halten heute ihre Türen mehr oder weniger geschlossen."
"Integration der entscheidende Faktor"
Dabei ließen sich diese Türen sehr wohl ein wenig öffnen. WIFO-Chef Karl Aiginger sagte etwa kürzlich am Rande des Forum Alpbach, es sei möglich 70.000 Einwanderer in die österreichische Gesellschaft aufzunehmen.
Eine konkrete Zahl will Lutz nicht nennen, er stimmt Aiginger aber prinzipiell zu: "Es würde der österreichischen Gesellschaft nicht schaden, wenn sie junge Menschen aufnähme. Und ich glaube auch, dass das den Arbeitsmarkt beleben würde. Diese Menschen sollten uns willkommen sein - allerdings: Sie sollten auch integrationsfähig sein. Die Integration ist der entscheidende Faktor." Das gelte im Übrigen nicht nur für die Ankommenden, sagt Lutz, die einheimische Bevölkerung müsse sich ebenfalls an der Integration beteiligen.
Neben gutem Willen, das zeigen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, braucht es dafür vor allem eines: Bildung. Sie hilft den Kulturschock, den Einwanderer nolens volens zu überstehen haben, leichter zu verdauen, sich mit dem neuen Umfeld zu arrangieren und nicht zuletzt: auch einen Job zu finden.
Als positives Beispiel nennt Lutz etwa die Zuwanderer aus dem Iran, im Gegensatz zu den Gastarbeitern, die man in den 70ern nach Österreich geholt habe. "Da hat man bewusst Ungebildete ausgewählt, weil man dachte, die arbeiten brav und stellen keine Fragen." Was die Flüchtlinge aus Syrien angeht, hat er keine Bedenken. "Das sind ja keine Analphabeten. Sie haben ein gutes Bildungsniveau."
Robert Czepel, science.ORF.at
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