Standort: science.ORF.at / Meldung: "Warum Nationen so erfolgreich sind"

Arbeiter am Grenzzaun, den Ungarn errichtet hat

Warum Nationen so erfolgreich sind

Trotz oder wegen der EU: In Zeiten von Finanz- und Asylkrisen feiert der Nationalismus auch in Europa fröhliche Urständ. Was aber sind eigentlich Nationen? "Vorgestellte Gemeinschaften", sagt der Politikwissenschaftler Benedict Anderson. Im Guten wie im Schlechten sind sie noch immer die zentralen Akteure der Politik.

Politikwissenschaft 04.09.2015

Benedict Anderson gilt als einer der führenden Nationenforscher weltweit. Sein Buch "Imagined Communities" aus dem Jahr 1983 gilt heute als Klassiker.

An der Grundidee hat sich bis heute nichts geändert: Im Gegensatz zu "echten Gemeinschaften", deren Mitglieder man persönlich kennt – etwa aus der Schule, dem Arbeitsplatz oder dem Wohnbereich – bedürfen Nationen immer der Vorstellungskraft. Sie sind eben "vorgestellte Gemeinschaften", was nicht bedeutet, dass ihre Taten und Absichten bloß eingebildet sind.

Auch "Österreich" wurde hergestellt

Damit etwa die Bludenzer Architektentochter etwas mit dem Ruster Winzersohn gemeinsam hat, braucht es Fantasie. Die "österreichische Nation" war vielleicht keine "ideologische Missgeburt", wie das manche noch vor Kurzem meinten. Nach dem Untergang des Habsburgerreichs war aber tatsächlich nur eine Minderheit der Ansicht, dieser anzugehören. Keine Deutsche zu sein kam erst in Mode, als der Zweite Weltkrieg verloren war.

Mit der Überzeugung, "Hitlers erstes Opfer gewesen zu sein", dem Staatsvertrag, Toni Sailers Skierfolgen und anderen identitätsstiftenden Momenten wuchs schnell der Glaube an die österreichische Nation – ein Paradebeispiel dafür, was Benedict Anderson eine "soziale Konstruktion" nennt. Was die Mitglieder einer Nation ihm zufolge verbindet, wird gesellschaftlich her- und individuell vorgestellt.

Konferenz in Wien:

Benedict Anderson war Mitte August Gast der Konferenz der European Association for Southeast Asian Studies (EuroSEAS) an der Universität Wien und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und hielt dort die Keynote Lecture.

Toni Sailer nach einem seiner Siege bei den Olympischen Spielen von Cortina 1956

dpa

Toni Sailer nach einem seiner Siege bei den Olympischen Spielen von Cortina 1956

Wichtig sind dabei nicht nur die Bürger und Bürgerinnen dieser Nation in der Gegenwart. Mitvorgestellt werden immer auch jene der Zukunft. "Im Begriff der Nation liegt, dass sie auch weiterhin bestehen wird", sagt Anderson. "Das betrifft z.B. die Steuern. Die Regierungen geben das Geld für die Zukunft aus – für eine bessere Erziehung der Kinder, um die öffentlichen Schulden zu senken, um die Umwelt zu bewahren etc."

Ein schwelgerischer Max Weber

Ein gutes Beispiel für diesen Zukunftshorizont findet Anderson bei Max Weber. Und zwar überraschenderweise. Denn der Soziologe und Nationalökonom, berühmt für seine These vom Zusammenspiel von Kapitalismus und Protestantismus, galt eher als nüchtern und sachlich. Bei seiner akademischen Antrittsrede an der Universität Freiburg 1895 ließ er sich dennoch zu folgenden, recht schwelgerischen Worten mitreißen:

"Die Volkswirtschaftslehre … ist international, allein sobald sie Werturteile fällt, ist sie gebunden an diejenige Ausprägung des Menschentums, die wir in unserem eigenen Wesen finden. … Und – um ein etwas phantastisches Bild zu gebrauchen – vermöchten wir nach Jahrtausenden dem Grab zu entsteigen, so wären es die fernen Spuren unseres eigenen Wesens, nach denen wir im Antlitz des Zukunftsgeschlechts forschen würden. Auch unsere höchsten Ideale sind wandelbar und vergänglich. Wir können sie der Zukunft nicht aufzwingen wollen. Aber wir können wollen, dass sie in unserer Art die Art ihrer eigenen Ahnen erkennt. Wir, mit unserer Arbeit und unserem Wesen, wollen die Vorfahren des Zukunftsgeschlechts sein."

Die Viktoria auf der Siegessäule in Berlin, die 1873 zur Erinnerung an die Einigungskriege des Deutschen Kaiserreichs errichtet wurde.

dpa-Zentralbild/Arno Burgi

Die Viktoria auf der Siegessäule in Berlin, 1873 errichtet zur Erinnerung an die Einigungskriege des Deutschen Kaiserreichs

Zu einem Zeitpunkt also, als die "verspätete Nation Deutschland", wie sie der Soziologe Helmuth Plessner nannte, gerade einmal 24 Jahre auf dem Buckel hatte, dachte Max Weber Jahrtausende in deren Zukunft. "Er stellte sich vor, wie er sich selbst von dort aus in der Vergangenheit sucht", kommentiert Anderson. "Dahinter steckt ein semireligiöses Konzept." Webers Landsleute aus der Zukunft sollten sich an ihn erinnern als jemand, der Gutes getan hat für seine Nation.

"Das ist sehr typisch für diese Art von Spätnationalismus", sagt Benedict Anderson. "Wir müssen so sein, wie die Zukunft uns einschätzen wird." Und diese Einschätzung klingt bei Max Weber wenig erfreulich. Denn in seiner Rede von 1895 heißt es weiter: "Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen."

Nationen erfolgreicher als Klassen

Diesen Ellenbogenraum hat ein anderer Deutscher mit österreichischen Wurzeln später versucht, großzügig zu erweitern. Was aber auch immer die "vorgestellten Gemeinschaften" von Nationen konkret tun, ob Gutes oder schlechtes: "Nationalismus ist immer verbunden mit Zukunftsgewandtheit und Utopismus", sagt Benedict Anderson. Max Weber wollte seiner Nachwelt in guter Erinnerung sein, das ganze Projekt der Nation scheint "vorwärts gerichtet".

Ähnliches nahmen und nehmen auch jene Traditionen für sich in Anspruch, die sich nicht auf Nationen berufen, wenn sie den Verlauf der Geschichte erklären, sondern Klassen – einer Gemeinschaft, die mindestens so "vorgestellt" ist wie die von Nationen. Der Kommunismus, der sich auf Karl Marx beruft, war ein Zustand, der in der Zukunft lag und an dem es in der Gegenwart zu arbeiten galt.

Warum aber war das Konzept der Nationen im Vergleich zu dem der Klassen historisch so viel erfolgreicher? "Das traditionelle Proletariat ist nicht mehr, was es einmal war. Es hat sich parallel mit den Produktionsbedingungen gewandelt", sagt Anderson. "Klassen verändern sich schneller, die 'vorgestellten Gemeinschaften' von Nationen sind beständiger. Der Marxismus oder Kommunismus ist auf eine Weise kollabiert, wie das Nationen nicht tun werden."

Arbeiter beim Stacheldraht des Grenzzauns, den Ungarn im August 2015 errichtet hat

APA/EPA/Tamas Soki

Arbeiter beim Stacheldraht des Grenzzauns, den Ungarn im August 2015 errichtet hat - 26 Jahre nachdem der "Eiserne Vorhang" durchschnitten wurde

Fortschritt durch Staatsbürgerrechte

Ob es deshalb immer Nationen geben wird? Der Nationenforscher ist vorsichtig: "Ich habe die alberne Idee, dass sich alles in der Geschichte der Menschheit einmal auf- und dann wieder abbewegt. Vielleicht wir sind jetzt ganz oben, was die Wichtigkeit von Nationen betrifft." Trotz größerer Zusammenschlüsse wie etwa in der Europäischen Union sei die Macht von Nationalstaaten nämlich nach wie vor vorhanden.

Am besten zeigt sich das in gesetzlicher Hinsicht, meint Anderson. Beispiel USA: "Die Fortschritte, die es in den vergangenen Jahrzehnten für Frauen, Schwarze, lesbische, schwule und transsexuelle Personen gegeben hat, wurden nicht unter Berufung auf die allgemeinen Menschenrechte erreicht. Sondern sie hingen immer von der Staatsbürgerschaft ab. Es waren letztlich Richter, die gesagt haben: 'Es geht nicht, dass man nicht heiraten kann, nur weil man lesbisch oder schwul ist.'"

In Europa sei das nicht anders, auch hier wird mit nationalen Grundrechten argumentiert und entsprechende Gesetze zur Gleichstellung von Minderheiten und benachteiligten Personengruppen beschlossen. "Solange das so ist, werde ich bei ihrer Beurteilung nicht allzu zynisch", meint Anderson. Auch wenn andererseits im Namen von Nationen nach wie vor grausame Dinge rund um den Globus geschehen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zum Thema: